Adrienne Mesurat
einer Sekunde bewußt geworden, was alles im Leben der beiden belanglos und nichtig, in ihrem eigenen dagegen neu und bedeutsam war.
An diesem Abend saß sie, wie so oft, allein mit Monsieur Mesurat am Tisch, denn Germaine war zu müde, um herunterzukommen. Adrienne war froh darüber. Sie wollte ihrer Schwester nicht, so kurz nachdem sie vor ihr errötet war, wieder unter die Augen treten; außerdem fürchtete sie, diese könnte aus Bosheit während des Essens von ihr wissen wollen, was sie am Nachmittag im zweiten Stock gesucht hatte, noch dazu in einem Zimmer, das nicht ihr gehörte. Und sie stellte sich die Verwunderung ihres Vaters vor und die Fragen, mit denen er sie bedrängen würde. »Um sechs Uhr, da oben! Aber um die Zeit liest du doch in deinem Zimmer? Was ist denn in dich gefahren?« Als gebe es eine Religion, die sie verpflichte, sich zu einer bestimmten Zeit an diesem und zu einer anderen Zeit an jenem Ort aufzuhalten. Bei diesem Gedanken spürte sie Wut und Ungeduld in sich hochsteigen.
Wahrscheinlich war die peinliche Situation nur auf morgen verschoben. Aber welch köstliche Stunde trennte sie noch von diesem Morgen! Kaum hatte ihr Vater sich in einen Lehnstuhl gesetzt, war sie auch schon draußen. Sie zitterte vor Vergnügen, grub ihre Nägel in den Schal, der ihre Schultern bedeckte, und lief leichtfüßig bis an die Ecke der Rue du Président-Carnot.
Es war noch recht hell, und so konnte sie das weiße Haus in all seinen Einzelheiten erkennen. Von Tag zu Tag nahm es in ihrem Denken eine klarer umrissene Bedeutung an. Anfangs hatte sie es mit ängstlicher Neugier betrachtet, jetzt lief sie zu ihm, als wäre es eine Zuflucht. War sie verrückt? Welche Freude fand sie daran, dieses gewöhnliche Haus anzusehen? Wenn der Mensch, der darin wohnte, ihr wenigstens hätte zu Hilfe kommen können, aber dieser Mensch kannte sie nicht. Und was sollte das überhaupt heißen: zu Hilfe kommen? Zu Hilfe kommen gegen wen?
Sie hielt sich mit beiden Händen den Kopf, benommen von diesen Gedanken, die sie plötzlich aufwühlten, und sie war wütend auf sich, weil sie sich selbst ihr Vergnügen verdarb und dumme Betrachtungen anstellte vor diesem Haus, genau an der Stelle, nach der sie sich gesehnt hatte, seit sie vom Tisch aufgestanden war. Warum war sie nicht glücklich? Was hatte sie denn? Tränen stiegen ihr in die Augen. Auf einmal fühlte sie sich überwältigt, gerufen von etwas, was sie nicht kannte. Sie lief über die Straße und preßte ihre Lippen gegen die Mauer des weißen Hauses.
Fast im selben Augenblick hatte sie sich wieder in der Gewalt und schaute rasch um sich herum, aber die Straße war leer. Sie erstickte eine Art Lachen und flüsterte: »Und selbst wenn irgendwer mich gesehen hätte, er hätte doch nichts verstanden.« Ihre Wangen glühten. So schnell sie konnte, ging sie die Rue du Président-Carnot hinauf, als würde sie vor jemandem fliehen. Schon bald fand sie sich auf der Landstraße wieder und blieb stehen. Sie atmete schwer. Die Nacht war mild, die Luft reglos. Doch über ihr bewegten sich die Wipfel der Bäume sachte in einem leichten, unmerklichen Wind. Auf der anderen Straßenseite erstreckten sich, so weit das Auge reichte, tiefschwarze Felder unter einem dunklen, mit kleinen funkelnden Punkten übersäten Himmel. Sie bemerkte, daß sie weinte, doch in der unermeßlichen Einsamkeit der Nacht kamen ihre Tränen ihr kindisch vor. Sie machte ein paar Schritte auf der Landstraße. Die Steine hallten unter ihren Absätzen; sie lauschte dem Geräusch mit der fieberhaften Aufmerksamkeit eines Kindes, das krank ist und glaubt, eine Zerstreuung gefunden zu haben. Wenn sie so weiterging, würde sie nach Longpré und bis ans Wasser gelangen, dann nach Coures… Es gab Tausende von Menschen, die dieser Straße gefolgt waren. Warum nicht sie? Warum sollte sie nicht gehen, wohin sie wollte? Sie lief ein kurzes Stück, doch ihre Röcke behinderten sie, und mit pochendem Herzen mußte sie stehenbleiben.
Sie setzte sich auf einen Grenzstein und sang leise vor sich hin. Ihr schien, sie wäre seit einer Weile wie außer sich und beginne, sich langsam von etwas zu befreien. Es war, als lösten sich mit einem Schlag tausend Erinnerungen in ihrem Gedächtnis auf und sie verwandle sich in eine andere Person.
Mehrere Minuten waren verronnen, seit sie so am Straßenrand saß, in eine schlafähnliche Träumerei versunken, als ein Windhauch, der dicht über die Erde strich, sie erschauern ließ; und sie
Weitere Kostenlose Bücher