Adrienne Mesurat
Einsamkeit ihre Spuren gegraben hat, und sie kippen übergangslos von einer leeren Existenz in eine Art innere Raserei, die sie völlig verstört. Deshalb ergriff der Wunsch, das Zimmer ihrer Schwester zu besitzen, plötzlich und vollkommen von Adrienne Besitz, und durch eine Ungereimtheit dieses Herzens, das in der Langeweile herangewachsen war und nun auf einmal wild pochte, war sie von diesem Wunsch so besessen, daß sie zuweilen aus den Augen verlor, was eigentlich ihr Verlangen nach diesem Zimmer ausgelöst hatte, und sie den ganzen Tag kein einziges Mal an Maurecourt dachte.
Nun ging sie umher, den Kopf mit verworrenen und widersprüchlichen Plänen erfüllt, von denen sie nichts verriet, denn ihre Vorsicht wuchs im gleichen Maße wie das, was zu ihrer Manie wurde, doch ein wenig Beobachtungsgabe hätte genügt, um zu verstehen, daß all ihre Worte auf ein einziges Ziel hinausliefen. Ein kompliziertes Vorhaben war in ihr gereift; Germaine brauchte das sonnigste Zimmer, nämlich jenes, das sie im Augenblick auch hatte und von dem aus man das weiße Haus so gut sah. Andererseits lag die Villa Louise günstiger als die Villa des Charmes, weil sie auf zwei Straßen ging. Warum sollte Germaine also nicht in der Villa Louise wohnen? Auf diese Weise würde ihr Zimmer frei, und Adrienne könnte es beziehen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Lösung tritt noch deutlicher zutage, wenn man sich überlegt, daß Adrienne, genauso wie ihr Vater oder ihre Schwester, nicht die geringste Vorstellung hatte, wer die neue Mieterin sein mochte, diese Madame Legras, von der man gerade wußte, daß sie verheiratet war, aber allein kommen sollte. Würde sie einer so merkwürdige Vereinbarung überhaupt zustimmen? Dennoch fuhr Adrienne unbeirrt fort, ihrer Schwester einzuflüstern, auf der linken Seite der Rue Thiers wäre sie besser untergebracht als auf der rechten.
In Anbetracht des Widerstands von Germaine, die nichts begriff, wich diese Idee im Kopf des jungen Mädchens einer anderen. Warum sollte nicht sie selber, Adrienne, bei Madame Legras wohnen? Wenn sie ein Zimmer auf die Rue du Président-Carnot bekommen könnte, wäre dann der Blick, den sie auf das weiße Haus hätte, nicht unvergleichlich besser als der aus Germaines Zimmer? Aber so durchführbar das Vorhaben, unter einem fremden Dach zu wohnen, ihr auch erschien, solange es sich um ihre Schwester handelte, so anders kam ihr die Sache vor, wenn sie an sich selber dachte. Sie war schüchtern, und die Aussicht, mit einer Person verhandeln zu müssen, die sie nicht kannte, stimmte sie sogleich bedenklich. Sie erkannte, daß sie auf dem Holzweg war. Da stieg ein plötzlicher Haß gegen die zukünftige Mieterin der Villa in ihr auf, dieser Villa, die ihre Begehrlichkeit herausforderte und von der sie ihren
Blick nicht losreißen konnte. All ihr Mißmut übertrug sich auf Madame Legras, und in einer kindischen Regung wünschte sie ihr alle möglichen Unannehmlichkeiten, etwas, was sie rächen würde, zum Beispiel schlechtes Wetter, das ihr die Ferien verderben sollte.
Als sie sich eines Morgens aus dem Fenster des Eßzimmers lehnte, sah sie einen Mann auf dem Bürgersteig der gegenüberliegenden Straßenseite. Trotz der Hitze war er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug eine Art schlecht geschnittenen Gehrock. Er ging schnell. Eine Weile folgte sie ihm zerstreut mit den Augen. Er überquerte die Rue du Président-Carnot und setzte seinen Weg geradeaus fort, an der Mauer des weißen Hauses entlang. Dann sah sie, wie er vor einer Tür stehenblieb und sie aufschloß. Adrienne faßte sich mit der Hand an den Mund, um einen Schrei zu ersticken: Es war Maurecourt.
Die darauffolgende Woche war quälend. Man hätte meinen können, der Blick, den dieser Mann ihr am Straßenrand zugeworfen hatte, habe sie behext. Sie mußte ihn wiedersehen. Ihr schien, es würde genügen, daß er noch einmal an der Villa des Charmes vorüberginge, wenn sie am Fenster stand. Danach hätte sie ihre Ruhe wieder. Aber wann verließ er das Haus? Sehr früh oder sehr spät oder vielleicht zu den Essenszeiten. Wie war es möglich, daß sie ihn nicht erkannt hatte, als er vorüberging? Zwanzigmal am Tag blickte sie aus dem Fenster, sah ihn aber nicht wieder.
Ein anderes Mal stahl sie sich nach dem Abendessen fort und strich um das weiße Haus. Sie lief nicht Gefahr, gesehen zu werden, denn nach Sonnenuntergang setzt in La Tour-l’Evèque kaum jemand noch einen Fuß vor die Tür, doch was konnte sie
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