Adrienne Mesurat
stand auf. Sie ging die Straße in die eine, dann in die andere Richtung, die Hände hinter dem Rücken und die Augen zu Boden gerichtet, und wieder fing sie an, halblaut eine Melodie vor sich hin zu singen, doch sie merkte sogleich, daß es eine Melodie war, die Monsieur Mesurat oft zu pfeifen pflegte, und verstummte.
Mit gerunzelter Stirn ging sie ein wenig schneller in Richtung Rue Carnot. Als sie die Landstraße hinter sich ließ, wurde ihr mit einemmal kalt, und sie legte die Hände auf ihre nackten Arme; ihre Haut fühlte sich kühl an. Und als habe diese Berührung eine unwiderstehliche Idee in ihr geweckt, blieb sie abrupt stehen, streckte die Arme vor sich aus und betrachtete sie in dem Ungewissen Licht, das vom Himmel herabfiel. Sie waren weiß und rund und besaßen jenen rätselhaften Duft nach Obst, den ein gesunder Körper verströmt; der Schwung ihrer Linien zog sich wie eine geschweifte Klammer von der Schulter bis zum Handgelenk. Sie musterte sie eine Weile mit einem Blick, in dem sich Freude und Traurigkeit mischten, und ließ sie voller Verzweiflung wieder fallen. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, daß sie schön war, aber sie wußte es. Und sie sah sich in einer Nacht der vergangenen Woche, als sie allein in ihrem Zimmer war, gequält von einem jener Anfälle von Schwermut, die sie häufig ohne jeden ersichtlichen Grund überkamen. Sie hatte sich vor ihre Frisierkommode gesetzt und betrachtete sich beim Schein der Lampe, einen Arm auf die Marmorplatte gestützt, im Spiegel. Ihr schwarzes Haar, das in dichten Flechten an den Wangen herabfiel und ihre Schultern umhüllte, verlieh ihrem Gesicht etwas Majestätisches und Trauriges zugleich – obwohl ihre Augen funkelten und das Blut unter ihrer Haut schnell durch die Adern floß. Sie schaute sich lange an, bewunderte die makellosen Züge, die der Spiegel ihr zurückwarf; die geraden und energischen Brauen, die blauen Augen und den Mund mit den vollen Lippen, die sich nicht öffneten. Ihre ernste Miene überraschte sie; sie versuchte zu lächeln, doch beim Anblick dieser gespielten Fröhlichkeit mußte sie die Augen schließen, als hätte sie etwas Schändliches gesehen. Nach einer Sekunde öffnete sie sie wieder, schüttelte den Kopf, als sie das bekümmerte Gesicht sah, das ihr entgegenblickte, und vom Gewicht einer stummen Verzweiflung niedergedrückt, ließ sie sich plötzlich vornüber fallen, die Stirn auf der Marmorplatte, ihre Haare über die Bürsten, Fläschchen und Schächtelchen gebreitet, mit denen ihre Frisierkommode bedeckt war.
Diese Erinnerung ernüchterte sie restlos. Was nützte es ihr, schön zu sein? Verhinderte es, daß sie litt? Und welches Glück schuldeten ihr dieses füllige Haar, der helle Teint? Sie hatte das schmerzliche Gefühl, gerade in den Augenblicken lächerlich zu sein, in denen sie am meisten litt. Mit einemmal überkam sie der Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu legen und einzuschlafen.
Sie lief die Straße zurück, ohne vor dem weißen Haus innezuhalten. Als ihr dennoch auffiel, daß im zweiten Stock kein Licht mehr brannte, empfand sie trotz ihrer Verwirrung jene Art von banger Zufriedenheit, die sie jeden Abend verspürte und auf die sie, als bestünde darin ihr ganzer Lebensinhalt, tagtäglich wartete.
Einen Augenblick später war sie wieder in der Villa. Bestimmt war sie ein wenig länger als gewöhnlich draußen geblieben, denn ihr Vater hatte sich schon zur Ruhe begeben, und sie mußte tastend nach ihrem Weg suchen. Auf Zehenspitzen schlich sie zu ihrem Zimmer hinauf, als sich im zweiten Stock mit einem harten Knarren, das die Stille zerriß, eine Tür öffnete.
»Bist du es, Adrienne?« fragte Germaine schroff.
Das junge Mädchen blieb auf der Türschwelle stehen, ihr Herz klopfte heftig vor Überraschung und Wut. Sie zögerte kurz.
»Was willst du?« sagte sie schließlich mit dumpfer Stimme.
»Seit neuestem stiehlst du dich nach dem Abendessen weg«, fuhr Germaine fort. »Du warst eineinhalb Stunden draußen.«
»Das geht dich nichts an«, antwortete Adrienne.
Sie machte die Tür auf und stürzte in ihr Zimmer, doch sie hatte noch Zeit genug, um zu hören, wie Germaine mit schriller und zorniger Stimme »Und ob!« schrie. Das genügte, um sie aus der Fassung zu bringen. Sie schlug die Tür mit aller Kraft zu und drehte den Schlüssel so energisch wie möglich zweimal herum. Dann preßte sie das Ohr gegen die Türfüllung, doch es herrschte wieder Stille. Sie
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