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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Germaine anging, so sagte sie nichts. Seither waren die Besuche angesichts von Monsieur Mesurais nahezu feindseliger Haltung immer seltener geworden, und irgendwann hatten sie ganz aufgehört.
    Unter dem äußeren Schein einer eintönigen Existenz verbarg Adrienne jedoch eine Unruhe, die man bei ihr kaum vermutet hätte; sie war durch diese Umgebung zu einer Heimlichtuerin geworden und zeigte den Blicken ihres Vaters und ihrer Schwester ein Gesicht, in dem diese nicht die geringste Regung zu lesen vermocht hätten, vorausgesetzt, sie hätten sich diese Mühe überhaupt gemacht. Abends, in der Einsamkeit ihres Zimmers, tagsüber auf ihren Spaziergängen, wälzte sie Gedanken, die sie niemandem eingestanden hätte und die ihr selbst in gewisser Weise peinlich waren. Doch wieviel Vorsicht muß man nicht walten lassen, will man in die stolze Schüchternheit jener Seelen eindringen, die sich abkapseln und die Welt von sich weisen, und welche Worte hätte Adrienne selbst gebraucht, um von ihren Gefühlen zu sprechen? Wahrscheinlich wäre ihr der Ausdruck Gefühl eigenartig vorgekommen, und ihre Erinnerung hielt nur Bilder für sie bereit, mit denen sich weder Traurigkeit noch Freude verband, deren Kraft aber so groß war, daß sie an nichts anderes denken konnte.
    Zuerst sah sie sich selbst, vierzehn Tage zuvor. Sie ging eine Straße in der näheren Umgebung der Stadt entlang, in einem Kleid aus blauem Perkal, die Arme voller Wiesenblumen. Kein Lufthauch regte sich. Am Himmel stieß eine Lerche ihren hellen Ruf aus, der die Stimme von Hitze und Sonne selbst zu sein schien. Der Schatten am Fuß der Bäume war nur noch ein schwarzer Strich. Adrienne spürte, wie ihr warme Tropfen langsam an Armen und Schläfen herabliefen. Auf einmal sah sie einen Wagen, der von der Stadt her in ihre Richtung gefahren kam. Es war eine dieser Droschken, die immer ein wenig verlottert wirken, mit quietschenden Federn und staubigen Sitzbänken. Der Kutscher trug eine Alpakajacke, und unter seinem Strohhut hatte er ein Taschentuch ausgebreitet. Ohne daß sie wußte warum, erschien ihr der Anblick dieser näherkommenden Droschke interessant, und sie blieb im Gras stehen, etwas abseits der Straße, um alles genau zu beobachten. Schon bald nahm sie die Person wahr, die im Wagen saß, und sie erkannte Doktor Maurecourt, der sich vor wenigen Monaten in La Tour-l’Evèque niedergelassen hatte. Monsieur Mesurat hatte nie daran gedacht, ihn auf ein Plauderstündchen einzuladen, obwohl sie Nachbarn waren und der alte Mann, was den Doktor betraf, von einer recht lebhaften Neugierde geplagt wurde. Doch Antoine Mesurais Schüchternheit hinderte ihn daran, den ersten Schritt zu tun, und außerdem wußte er nur zu gut, daß der Doktor keine Einladungen annahm, unter dem stets gleichen Vorwand, es eilig zu haben. Eilig? Womit denn? Die Stadt war nicht sehr groß, und folglich gab es auch nicht sehr viele Patienten, aber es stimmte schon, daß der Doktor nur Besuche abstattete, die sein Beruf erforderlich machte, und man sah ihn niemals durch den Park flanieren oder, wie es bei Spaziergängen üblich ist, an den Gartentoren für ein Gespräch unter Nachbarn stehenbleiben. Im Gegenteil, schnell und mit gesenktem Kopf ging er durch die Straße.
    Der Wagen fahr ganz nahe an Adrienne vorbei. Vielleicht war dem Doktor der durchdringende Blick, den das junge Mädchen ihm zuwarf, bewußt geworden. Auf jeden Fall schaute er auf von dem Buch, das er gerade las, und wandte den Kopf in Adriennes Richtung. Er war klein, noch jung, hatte aber eine ungesunde Gesichtsfarbe, die ihn älter machte. In diesem bleichen Antlitz fielen Adrienne die dunklen Augen auf, die mit einem Ausdruck der Neugierde an ihr hängenblieben. Er schien ganz kurz zu zögern, dann tippte er flüchtig an seinen Hut. Das ganze dauerte nur eine Sekunde, und schon war der Wagen vorüber.
    Diese Erinnerung hatte in Adriennes Gemüt einen tiefen Eindruck hinterlassen, ähnlich einem Traum, den man wegen seiner Merkwürdigkeit nur schwer vergißt, und tatsächlich gemahnte sie dieser Spaziergang an eine Art Wachtraum. Als sie von der Straße ins Gras zurückgetreten war, hatte sie mit Gewißheit gespürt, daß diese Minute wichtig war und sie später noch oft daran denken würde. Aber ist das nicht bei allen Personen so, denen das Leben nichts gibt und die eine törichte und abergläubische Hoffnung in die nahe Zukunft setzen? Wie oft hatte sie nicht dieselbe Gewißheit verspürt! Wieviele Gefangene haben

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