Adrienne Mesurat
stemmte sich mit der anderen gegen die Dachrinne und beugte den Körper zum Garten hinaus.
So wartete sie lange Minuten, lehnte sich nur kurz zurück, wenn sie müde war oder wenn sie fürchtete, Germaine, die um den Rasen herumspazierte, könnte den Kopf heben und sie erblicken. In der Stille dieser ausklingenden Nachmittage drang auch der feinste Laut an ihr Ohr. Sie hörte ihren Vater, der in einem knarrenden Korbstuhl auf der Außentreppe saß, immer wieder die großen, dicken Blätter des Temps auseinander- und zusammenfalten, und auf der Allee das Knirschen der Kieselsteine unter den regelmäßigen Schritten ihrer Schwester. Diese Geräusche gingen ihr auf die Nerven; sie erinnerten sie an die Langeweile ihres alltäglichen Lebens und schienen boshafte Stimmen zu sein, die ihr sagten, daß sie diesem Zauberkreis, den Germaine und Monsieur Mesurat um sie herum zogen, niemals entkommen werde. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, doch sie wartete auf ein anderes, schwächeres, weil weiter entferntes Geräusch, das vom Ende der Straße zu ihr heraufklingen würde. Wenn sie manchmal das Schauen und Lauschen nicht mehr aushielt, packte sie ein jähes Verlangen zu schreien. Ein Unwohlsein überfiel sie in den letzten Sekunden dieses Wartens. Ihr schien, der Himmel werde ganz schwarz und das Schieferdach des Hauses hebe sich weiß ab von diesem plötzlich verfinsterten Hintergrund. Sie fragte sich, ob sie hierbleiben konnte, ob sie sich nicht genau in dem Augenblick, den sie so sehr herbeigesehnt hatte, auf einen ' Stuhl setzen müßte, aber immer, wenn sie sich gerade am alier-schwächsten fühlte, schlug die Wanduhr im Eßzimmer sechs. Einige Sekunden verstrichen. Endlich hörte sie das Knarren der Läden, die aufgestoßen wurden und einer nach dem anderen gegen die Mauer klappten. Dann sah sie, wie sich eine ältere Frau, wahrscheinlich eine Hausangestellte, für einen Moment auf eine der Fensterbrüstungen im zweiten Stock des weißen Hauses stützte und die Straße hinauf- und hinunterblickte. Sobald diese Frau verschwand, nahm Adrienne, die den Kopf zurückgezogen hatte, um nicht gesehen zu werden, ihren Platz wieder ein, die Hand gegen die Dachrinne gestemmt. Und in diesem Augenblick konnte sie den karmesinroten Teppich und die glänzende Oberfläche eines mit Papieren überhäuften Möbels erkennen. Das Blut schoß ihr ins Gesicht und . rauschte in ihren Ohren. Das ganze Gewicht ihres Körpers lastete auf ihrem Handgelenk. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, sich im nächsten Augenblick in die Leere zu stürzen, hinüber zu diesem Raum, der ihr auf einmal so nahe schien. Endlich richtete sie sich wieder auf, mit schmerzendem Handgelenk, trat ins Zimmer zurück und ließ sich taumelnd in einen Lehnsessel fallen.
Eines Tages, als sie gerade die Tür schloß und die Treppe wieder hinuntergehen wollte, begegnete sie ihrer Schwester, die heraufkam. Germaine betrachtete sie mißtrauisch und neugierig.
»Was hast du da oben gemacht?« fragte sie.
Adrienne wurde knallrot.
»Nichts«, sagte sie.
Und dann fragte sie töricht:
»Und du, warum kommst du herauf?«
»Ich?« sagte Germaine mit der sanftmütigen Stimme einer Person, die schon im vorhinein über ihre Antwort zufrieden ist, »ich gehe in mein Zimmer, um mich auszuruhen.«
Sie stieg noch zwei Stufen hinauf und blieb dicht vor Adrienne stehen. Das junge Mädchen spürte ihren Atem auf dem Gesicht und wich einen Schritt zurück. Es folgte ein kurzes Schweigen, während die beiden Frauen einander ansahen, dann zog Adrienne unwirsch die Schultern hoch und ging an ihrer Schwester vorbei schnell die Treppe hinunter.
Sie lief in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. In einem Anfall von Wut stampfte sie mit dem Fuß auf, dann warf sie sich plötzlich auf ihr Bett und vergrub ihr glühendes Gesicht in das Kissen. Sie schämte sich. Von Germaine überrascht werden, von dieser alten Jungfer, die durch ihre Krankheit für Boshaftigkeiten besonders anfällig war! Sie stützte sich auf einen Ellbogen und trommelte mit der Faust auf das Kissen, während sie halblaut und zornbebend wiederholte: »Du Idiotin! Du Idiotin!«
Zum ersten Mal fragte sie sich, was ihre Schwester und ihr Vater wohl von ihr dächten, wenn es ihnen gegeben wäre, ihr ins Herz zu schauen. Sie zuckte die Achseln. »Ist mir doch gleich!« murmelte sie, nachdem sie einen Augenblick gegrübelt hatte. Und sie fühlte sich diesen zwei Menschen überlegen, als wäre ihr innerhalb
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