Adrienne Mesurat
Schrecken verflog jedoch, sobald sie vollkommen wach war. Träume hatten sie gequält. Aber welche? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Sie fragte sich, ob sie vielleicht geschrien oder irgend etwas gesagt und ob nicht der Klang ihrer Stimme sie aus dem Schlaf gerissen hatte; und die Vorstellung, mitten in der Nacht ganz allein vor sich hin gesprochen zu haben, schien ihr entsetzlich. Sie fürchtete diese Stille, mehr noch fürchtete sie jedoch, sie zu stören, und sie bemühte sich, durch den Mund zu atmen und so die Geräusche zu dämpfen.
Wieder nickte sie ein, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoß: Wahrscheinlich würde Madame Legras bald eintreffen. Vielleicht konnte die ihr helfen. Ihr helfen?
Sie schlief ein.
V
Beim Frühstück am nächsten Morgen wurde nicht über den Wortwechsel gesprochen, zu dem es am Abend zwischen Adrienne und ihrer Schwester gekommen war, und sobald Germaine ihren schwarzen Kaffee ausgetrunken hatte, nahm sie wie gewöhnlich ihren Platz vor dem Salonfenster ein. Doch als Monsieur Mesurat die Villa verließ, um seinen Spaziergang zu machen, richtete die alte Jungfer sich in ihren Kissen auf und sagte zu Adrienne, die gerade die Überdecke eines Polstermöbels zurechtzog:
»Wirst du mir jetzt sagen, was du gestern abend draußen gemacht hast?«
Adrienne fuhr erschrocken herum. Ihr Gesicht lief unter dem weißen Tuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte, dunkelrot an.
»Hast du mit Papa gesprochen?«
»Das wäre dir also unangenehm?« sagte Germaine.
Adrienne kehrte ihr den Rücken zu und tat, als kümmerte sie sich um eine Blumenvase.
»Nun, Adrienne?« begann Germaine von neuem, während sie sich mit dem Ellbogen auf die Sofakante stützte; sie trug die entschlossene und zugleich beherrschte Miene jener Menschen zur Schau, die schon im voraus die Diskussion auskosten, die sie gleich vom Zaun brechen werden.
»Was willst du überhaupt?« fragte ihre Schwester.
»Ich will eine Antwort«, sagte Germaine. »Seit einer Weile hast du dich verändert. Du gehst nachts hinaus. Was tust du? Ich muß es wissen.«
Adrienne drehte sich um und machte ein paar Schritte auf das Sofa zu.
»Warum?« fragte sie. »Du bist nicht meine Mutter.«
Sie spürte, daß sie die Geduld verlor und später bereuen würde, was sie nun sagen wollte, dann gab sie plötzlich ihrem Zorn mit dem Vergnügen nach, sich zu befreien und weh zu tun.
»Oder ist es, weil du siebzehn Jahre älter bist als ich?«
Das Blut schoß Germaine in die Wangen. Sie sah überrascht aus und schien einen Augenblick zu überlegen, was an der Frage ihrer Schwester unverschämt war, aber gleich darauf verzerrte sich ihr Gesicht.
»Ich vertrete hier deine Mutter«, sagte sie mit einer Stimme, die vor Haß leicht zitterte. »Zum Glück ist jemand da, der dich überwacht: und zwar ich. Es ist deine Pflicht, mir zu antworten. Ich will wissen, was du gestern abend gemacht hast.«
Adrienne schüttelte heftig den Kopf.
»Hörst du, Adrienne«, fuhr Germaine fort, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich will es wissen, oder ich sage es deinem Vater.«
»Nichts wirst du wissen«, sagte das junge Mädchen mit dumpfer Stimme.
Germaine ließ sich in ihre Kissen zurückfallen und verschränkte die Hände.
»Wie du willst«, sagte sie drohend.
Adrienne entfernte sich und ging wieder ihren Beschäftigungen nach. Es herrschte ein kurzes Schweigen, dann begann Germaine von neuem zu sprechen, mit jener Hartnäckigkeit der Schwachen, die sich nicht mit einer Niederlage abfinden können und den Kampf unermüdlich wieder aufnehmen.
»Du glaubst, ich wüßte nicht, was du tust«, sagte sie. »Wir überwachen dich nicht genug. Aber man kann alles von deinem Gesicht ablesen.«
Adrienne staubte den Kamin ab. Sie betrachtete sich im Spiegel und fragte mit tonloser Stimme:
»Was sagt mein Gesicht denn?«
»Es sagt, daß du nicht schläfst und daß du dich auf der Straße herumtreibst«, antwortete Germaine grob.
Geistesabwesend wischte Adrienne mit ihrem Lappen über den Spiegel. Der erstaunte Blick in ihren hellen Augen schien nach dem Sinn der Worte zu suchen, die ihre Schwester soeben ausgesprochen hatte.
»Daß ich mich auf der Straße herumtreibe?« wiederholte sie schließlich. »Das ist doch kein Verbrechen. Und ist es meine Schuld, wenn ich nicht schlafen kann?«
Germaine biß sich auf die Lippen. Es war unmöglich, diesen Tonfall falsch zu verstehen; sie kam sich lächerlich und vulgär vor.
»Du weißt ganz genau, was ich
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