Adrienne Mesurat
meine«, sagte sie schnell. »Ich werde deinen Vater über dein Benehmen unterrichten, wenn du mir nicht sagst, was du gestern abend gemacht hast.«
Und angesichts von Adriennes verächtlichem Schweigen steigerte sich ihre Neugierde ins Maßlose und schlug plötzlich in Wut um.
Ruckartig stand sie auf und mußte sich mit zitternden Knien an das Sofa lehnen.
»Du wirst schon noch reden, glaub mir«, sagte sie und deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Schwester. »Ich werde dich dazu zwingen.«
Das junge Mädchen antwortete nicht; dieser unerwartete Zornausbruch erfüllte sie mit Staunen.
»Warum verbirgst du dich denn, wenn du nichts Böses tust?« fragte Germaine und erhob ihre Stimme, als wollte sie sich selbst von dem, was sie sagte, überzeugen. »Du wartest, bis es finster ist, um dich hinauszustehlen.«
Als ihre Schwester ihr nur einen stummen Blick zuwarf, konnte sie ihren Groll nicht länger im Zaum halten.
»Du verstehst mich sehr gut«, stieß sie hervor. »Du brauchst nicht die Unschuldige zu spielen. Bei mir wirst du damit keinen Erfolg haben, weißt du. Glaubst du vielleicht, ich bin dumm? Du bildest dir wohl ein, ich sehe nicht, wie du jeden Abend um neun die Straße hinaufgehst?«
Adrienne wurde blaß.
»Warum willst du mich unglücklich machen?« stammelte sie.
»Unglücklich!« schrie Germaine. »Und ich, glaubst du etwa, ich bin nicht unglücklich gewesen?«
Sie machte eine krampfhafte Gebärde und sprach weiter:
»Ich habe alle erdenklichen Qualen gelitten, hörst du, entsetzlich gelitten. Aber diese Erfahrung soll zu etwas gut sein. Ich werde dich hindern, dieselben Fehler zu begehen wie ich.«
»Was für Fehler?«
»Das geht dich nichts an. Ich frage dich nur zu deinem Besten, und aus Mitleid.«
Sie preßte ihr Taschentuch an die Lippen.
»Wirst du mir antworten?« fragte sie noch einmal.
Adrienne schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie.
Germaine betrachtete sie einen Augenblick, dann zuckte sie die Schultern und streckte sich wieder auf dem Sofa aus.
»Dann ist es so, als ob ich nichts gesagt hätte«, bemerkte sie.
»Ja«, sagte Adrienne.
Sie nahm eine Blumenvase und ging damit ins Badezimmer. Dieser Wortwechsel hatte sie so sehr verblüfft, daß sie darüber all den Zorn vergaß, den sie zunächst gegen ihre Schwester verspürt hatte. Sie stellte die Vase mit den Geranien in ein Waschbecken und drehte den Hahn mit aller Kraft auf; das Wasser schoß in einem dicken Strahl hervor, der mit einem betäubenden Geräusch auf die Porzellanwände prallte. Über die Blumen gebeugt, betrachtete das junge Mädchen dieses Wasser, das langsam in der Vase hochstieg und sie ins Schwanken brachte. Als die Vase voll war, drehte sie den Hahn wieder zu, doch sie bedauerte, dieses Rauschen, das sie am Nachdenken hinderte, nicht mehr zu hören.
Sie setzte sich auf einen Stuhl, noch ganz benommen von dem, was ihre Schwester ihr gesagt hatte. Nie zuvor hatte sie mit Germaine ein solches Gespräch geführt. Diese Frau ärgerte sie mit allem, was sie tat, und ihre kleinsten Bewegungen waren ihr zuwider. Außerdem empfand sie einen instinktiven Ekel vor dieser Krankheit, von der Germaine befallen war, und mochte ihr nicht zu nahe kommen. All dies schuf zwischen ihnen einen Abstand, der mit der Zeit gewachsen war, und auf einmal hatte Adrienne das Gefühl gehabt, einer Unbekannten gegenüberzustehen: nämlich in dem Augenblick, als Germaine von ihren Qualen gesprochen hatte.
Sie erhob sich, nahm ihre Blumenvase wieder in die Hände und wischte sie gedankenverloren mit ihrer Schürze trocken, dann ging sie in den Salon zurück. Einen Moment lang stand sie mitten im Raum, die Augen starr auf das Muster des granatfarbenen Teppichs gerichtet; genau zwischen zwei Polsterstühle, an die gewohnte Stelle, warf die Sonne ihren langen, rechteckigen Fleck.
Adrienne wunderte sich über das Schweigen ihrer Schwester. Sie machte ein paar Schritte, stellte die Blumen auf den kleinen runden Tisch, rückte einige Bücher auf dem Sekretär zurecht.
»Sag mal…«, begann sie plötzlich.
Germaine antwortete nicht. Daraufhin ging Adrienne zum Sofa und sah ihre Schwester an. Diese hatte sich nicht gerührt, doch ihre Augen waren gerötet; Tränen hingen an ihren Wimpern und liefen zu beiden Seiten ihrer Adlernase herab.
»Warum siehst du mich an?« fragte sie mit erstickter Stimme.
Und als Adrienne keine Antwort gab, auch nicht fortging, wandte sie den Kopf ab und sagte:
»Geh weg, ich hasse dich.«
Noch am
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