Adrienne Mesurat
selben Abend, als Désirée die Kaffeekanne vor Monsieur Mesurat auf den Tisch stellte, richtete der alte Mann seinen Blick auf das junge Mädchen.
»Weißt du«, sagte er, »ich habe eine Idee, Nach dem Abendessen ist es hier immer etwas langweilig. Wir werden Trente-et-un spielen.«
Adrienne ließ die Serviette fallen, die sie gerade hatte falten wollen, und blickte ihre Schwester an, aber Germaines Gesicht blieb undurchdringlich.
»Nun?« fragte Monsieur Mesurat und strich sich mit der Rückseite des Daumens über den Bart.
Er schwieg, verunsichert durch die Überraschung, die er auf dem Gesicht seiner jüngeren Tochter las.
»Papa, ich kann nicht Karten spielen«, sagte Adrienne rasch.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte Monsieur Mesurat in seinem jovialen Tonfall. »Das lernt man in zwei Minuten. Germaine spielt auch mit, nicht wahr, Germaine?«
Germaine nickte.
»Ja, es stimmt schon«, fuhr der alte Mann fort, »wir machen nichts am Abend. Ich lese die Zeitung, deine Schwester geht hinauf in ihr Zimmer. Wir brauchen ein bißchen Zerstreuung. Was hast du?«
Adrienne war aufgestanden und hatte eine Hand auf die Brust gelegt; das Blut war aus ihren Wangen gewichen, und sie hielt sich an der Lehne ihres Stuhls fest, als fürchte sie umzufallen.
»Was hast du?« wiederholte Monsieur Mesurat mit gebieterischer Stimme. »Adrienne!«
»Ich möchte nach nebenan gehen und mich ausruhen«, murmelte sie.
»Setz dich«, befahl Monsieur Mesurat.
Und er faßte sie am Handgelenk und zwang sie, sich wieder hinzusetzen. Sie schloß die Augen; ihre Stirn legte sich in Falten.
»Komisch, diese plötzliche Unpäßlichkeit«, bemerkte Germaine mit eisiger Stimme.
Sie schüttelte den Kopf, und nachdem sie die Tasse Kamillentee, die vor ihr dampfte, weggeschoben hatte, verschränkte sie die Arme auf dem Tisch und betrachtete ihre Schwester.
»Die Hitze«, erklärte Monsieur Mesurat. »Diese Lampe strahlt noch zusätzlich Wärme aus, sie hängt viel zu tief; stell sie höher, Germaine.«
Germaine streckte die Hand nach der Hängelampe aus und stellte sie ein wenig höher. In dem Licht, das nun von oben herabfiel, wirkte Adriennes Gesicht blaß, und Monsieur Mesurat runzelte die Brauen.
»Du wirst jetzt einen Schluck Kaffee trinken«, sagte er und goß eine Tasse voll.
»Ich will nichts, Papa«, antwortete Adrienne.
Der alte Mann zögerte kurz; ratsuchend blickte er zu Germaine, die nur mit den Schultern zuckte.
»Na gut«, sagte er.
Er trank den Kaffee in zwei Zügen aus und erhob sich. In diesem Moment öffnete Adrienne die Augen; ihr Gesicht erhellte sich mit einemmal, als sie sah, daß ihr Vater vom Tisch aufgestanden war, und für einige Sekunden glaubte sie, das Kartenspiel sei vergessen, doch Monsieur Mesurat schlug mit der Faust gegen die Lehne ihres Stuhls und sagte mit falsch klingender Gutmütigkeit:
»Steh auf. Los. Im Salon haben wir es bequemer.«
Wortlos gehorchte sie und ging ihrem Vater voraus, der ihr lachend auf die Schulter klopfte. Sie machte ein paar Schritte, betrat den Salon und blieb in der Mitte des dunklen Raumes stehen. Ihr schwirrte der Kopf wie bei einem plötzlichen Schwindelanfall. Ein einziger Gedanke kehrte unaufhörlich wieder und stürzte sie in eine langsam wachsende Verstörung; die Stunde rückte näher, zu der sie für gewöhnlich in Richtung Straßenecke lief. Draußen war es schön. Durch das Fenster strahlte der Himmel noch in jenem sanften Licht, das wie eine Verlängerung des Tages in die Nacht hinein wirkt. Keine einzige Wolke. In sich spürte sie einen unstillbaren Drang, ein ähnliches Gefühl wie im Zimmer ihrer Schwester, wenn sie, weit aus dem Fenster gebeugt, den Eindruck hatte, das weiße Haus sei ganz nah und mit einem Sprung über Garten und Straße hinweg könne sie es erreichen. Ihre Finger verschlangen sich ineinander. Sie hörte ihren Vater gegen einen Polstersessel stoßen, dann das Geräusch eines Streichholzes, das er mit kurzen, harten Kratzern an der Schachtel rieb. Kurz darauf erhellte die Lampe den Raum.
»Hol dir einen Stuhl«, sagte Monsieur Mesurat, der es sich an dem kleinen runden Tisch bequem machte.
Sie überwand sich, nahm einen Stuhl und setzte sich zwischen ihren Vater und Germaine, die die Karten mischte. Die Lampe auf dem Tisch rußte ein wenig; im Geist machte sie eine Bemerkung darüber, doch es fiel ihr nicht ein, sie auszusprechen. Alles kam ihr vor wie ein böser Traum, diese kranke alte Jungfer, die die Karten mischte, der Greis
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