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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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mit dem röchelnden Atem, sie selbst, die an diesem Tischchen saß, anstatt draußen zu sein, in der Nähe des weißen Hauses. Der Vers von Racine tauchte wieder in ihrem Gedächtnis auf. Welche Nacht konnte es an Grauen mit der Szene aufnehmen, die sie vor Augen hatte? Und plötzlich ließ sie den Kopf sinken und preßte ihre Fäuste an die Stirn.
    »Zum Kuckuck!« rief ihr Vater. »Was ist denn nun schon wieder?«
    Er nahm Adrienne bei den Händen und zwang sie, ihr Gesicht zu zeigen.
    »Du wirst mir sofort sagen, was du hast«, befahl er mit einer Stimme, in der sich Zorn ankündigte.
    »Nichts, gar nichts«, protestierte Adrienne verzweifelt und legte die Hände in den Schoß.
    »Papa, erkläre ihr das Spiel und laß uns anfangen«, sagte Germaine ungeduldig.
    Diese Worte gaben Monsieur Mesurat seine Ruhe zurück. Er griff nach den Karten, die Germaine soeben auf den Tisch gelegt hatte, und verteilte sie wortlos. Mit gesenkten Augen betrachtete Adrienne diese kleinen Pappvierecke, die mit einem trockenen Geräusch vor ihr niederfielen. Eine gleichgültige Trägheit überkam sie. Sie nahm die Karten, die man ihr gegeben hatte, schob sie geistesabwesend auf ein Häufchen und begann, sie zu mischen, als ein Schrei ihres Vaters sie zusammenzucken ließ.
    »Noch nicht! Ich muß es dir erst erklären«, sagte er.
    Daraufhin erläuterte er ihr die Spielregeln, begleitete seine Worte mit kleinen, präzisen Bewegungen, hob den Zeigefinger und deutete auf seine Karten, die er wie einen Fächer in der Hand hielt. Sie nickte.
    »Fang an!« befahl er, als er fertig war. Sie legte aufs Geratewohl irgendeine Karte hin, die Germaine sofort mit einer der ihren zudeckte. Dann legte Monsieur Mesurat seinerseits eine Karte auf den Tisch, wobei er noch eine Erklärung folgen ließ.
    »Und jetzt paß gut auf«, empfahl er ihr.
    Adrienne runzelte die Brauen und betrachtete ihre Karten, die sie auf den Rat ihres Vaters fächerförmig angeordnet hatte. Den Erklärungen Monsieur Mesurats, der nur darauf lauerte, welche Karte sie spielen würde, hatte sie nicht zugehört, und für einen Augenblick packte sie die panische Angst einer Schülerin, der eine allzu schwierige Frage gestellt wird. Könige, Damen und Buben tanzten vor ihren Augen. Sie wählte ein Kreuz-As, überlegte es sich dann anders und nahm eine Karo-Zehn. Auf einmal merkte sie, daß ihre Hand zitterte. Weder ihr Vater noch ihre Schwester ließ sie aus den Augen. Sie drückte ihre Karten an die Brust, als wolle sie sich nicht hineinschauen lassen.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie.
    »Du hast also nichts verstanden«, rief Monsieur Mesurat aufgebracht.
    »Spiel irgend etwas«, sagte Germaine wütend.
    Und sie trommelte mit der Rückseite ihrer Finger auf die Marmorplatte.
    »Gut«, antwortete Adrienne, die den Kopf verlor.
    Sie blickte ein zweites Mal prüfend in ihre Karten und zog eine heraus, die sie auf den Tisch warf.
    '»O nein!« schrie Monsieur Mesurat. »Das kannst du doch nicht spielen. Hör mir jetzt zu.«
    Er beugte sich ganz nah zu ihr und begann seine Erklärungen noch einmal mit langsamer Stimme, doch allmählich wurde er schneller. Sie konnte ihm nicht folgen. Zu viele Dinge schwirrten ihr durch den Kopf, sie verstand den Sinn seiner Worte nicht mehr; sie hörte nur ein Donnergrollen von Lauten, das Ungeduld verriet. Der warme Atem des Alten streifte ihre Wange; von jähem Ekel gepackt, schloß sie die Augen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit dem wild hämmernden Rhythmus einer Glocke hallte ein Wort in ihrem Kopf wider: leiden, leiden. Ja, genau das bedeutete »leiden«. Plötzlich dachte sie, daß die Stunde vorüber war, in der sie für gewöhnlich zur Straßenecke ging. Eine abergläubische Angst beschlich sie. Zum ersten Mal versäumte sie diese Art Rendezvous. Das mußte ihr Unglück bringen. Vielleicht beugte der Doktor sich genau in diesem Augenblick aus seinem Fenster… Sie sprang auf und ließ ihre Karten fallen.
    »Ich spiele nicht«, sagte sie.
    »Was?« brüllte Monsieur Mesurat.
    »Ich will nicht spielen«, wiederholte sie.
    Sie spürte, wie sich die knochige Hand ihrer Schwester um ihr Handgelenk schloß, und versuchte, sich loszureißen.
    »Setz dich«, sagte die alte Jungfer im Befehlston, »setz dich.«
    Monsieur Mesurat begann, mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen.
    »Du wirst gehorchen«, tobte er. »Du wirst mir sagen, was los ist.«
    »Setz dich«, wiederholte Germaine.
    Adrienne wehrte sich, aber mit einemmal

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