Adrienne Mesurat
verharrte ein paar Minuten in der Dunkelheit, lauschte auf ihren keuchenden Atem, bis sie hörte, daß sich die Tür ihrer Schwester leise schloß. Dieses Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ihr schien, daß es mehr über Germaines Charakter verriet, als sie bisher gewußt hatte, und sie fragte sich, wie lange ihr die Kranke schon nachspionierte.
»Ist mir gleich, ist mir ganz gleich!« sagte sie laut, mit Überdruß in der Stimme.
Und sie machte zwei, drei Schritte auf das Tischchen zu, auf dem die Lampe stand, überlegte es sich jedoch sogleich anders und begann, sich im Finstern auszuziehen; sie hatte keine Lust, das Experiment von jenem Abend zu wiederholen und vor dem Spiegel zu weinen, sie wollte so schnell wie möglich unter ihre Decken schlüpfen und schlafen. Mit fiebrigen Händen riß sie sich die Kleider herunter, löste ihr Haar auf und legte sich ins Bett. Aber ihre Gedanken hinderten sie am Einschlafen. Ihr war heiß. Das Blut pochte in den Adern am Hals, und sie drehte sich mehrmals hin und her, ohne eine bequeme Ruhelage finden zu können. Sie warf die Decke, die ihr zu schwer war, ans Fußende des Bettes, dann auch das Laken, dessen Berührung ihr unerträglich schien.
Eine ganze Weile lag sie regungslos da in der Hoffnung, wenn sie sich nicht bewegte, werde der Schlaf kommen, aber jedes Mal, wenn sie die Augen schloß, wurde sie durch schimmernde Flecken und Striche gezwungen, sie wieder zu öffnen. Ein unangenehmes Gefühl in Armen und Beinen zwang sie, sich auf die Seite zu drehen. Endlich stand sie auf und setzte sich ans Fußende ihres Bettes. Plötzlich fielen ihr alle möglichen Dinge wieder ein, so als wollten diese sich über sie lustig machen; sie erinnerte sich, daß sie vorhin auf der Straße gesungen hatte. Sie sah sich, wie sie ihre Lippen gegen die Mauer des weißen Hauses gepreßt hatte, und spürte, daß sie rot wurde bei dem Gedanken, wozu sie in einem Augenblick heftiger Erregung fähig gewesen war.
Nach einer Viertelstunde legte sie sich wieder hin, die Arme am Körper ausgestreckt, mit schwerem Kopf, und wie immer, wenn sie am unglücklichsten war, kamen ihr Kindheitserinnerungen in den Sinn. Halblaut sagte sie Namen von vergessenen Schulkameradinnen vor sich hin und begann, an Sainte-Cécile und eine Französischlehrerin zu denken, die sie ständig gerügt hatte. Sie war eine alte Jungfer mit einem Kneifer auf der Nase, die immer eine tadellos gestärkte weiße Bluse und ein blaues Sergekleid trug, dessen ausgebesserte Stellen in der Sonne glänzten. Sicher hatte sie Schweres in ihrem Leben durchgemacht, sonst wäre sie nicht so boshaft geworden. Adrienne sah sie wieder vor sich, wie sie, ein Buch in der Hand, die Lektion abfragte und mit bösem Lächeln auf die Fehler ihrer Schülerinnen lauerte, und sie hörte, wie die armselige, piepsende Stimme triumphierend ausrief: »Drei Fehler! Du lernst mir noch zwanzig Verse dazu!«
Auf einmal kam es ihr vor, als ob sie falle und versuche, sich festzuhalten; sie wollte eine Bewegung machen, aber sie hatte die Hände im Nacken verschränkt, und es gelang ihr nicht, sie zu befreien. Sie hatte das Gefühl, sich zu wehren, und fast im selben Augenblick wurde sie vom Schlaf übermannt.
Nach ein paar Stunden wachte sie ebenso jäh auf, wie sie eingeschlafen war. Sie blickte um sich, aber die Dunkelheit war undurchdringlich, und sie konnte nicht einmal das Weiß ihres Kopfkissens erkennen. Und plötzlich erinnerte sie sich an einen Vers, den sie vor langer Zeit auswendig gelernt hatte und dessen Worte ihr nun auf den Lippen lagen. Sie murmelte:
Es war im Grauen einer tiefen Nacht.
Noch nie hatte sie über den Sinn dieser Worte nachgedacht, und jetzt, da ihr Gedächtnis sie ihr nach Jahren des Vergessens wiedergab, schienen sie ihr von überwältigender und schrecklicher Schönheit, und Angst überfiel sie. Es liegt tatsächlich etwas Sanftes und Beruhigendes in den ersten Stunden der Dunkelheit, doch wenn die Nacht voranschreitet und alle Geräusche der Erde verstummen, bekommen Finsternis und Stille schnell ein anderes Gesicht. Eine Art übernatürlicher Starre lastet auf allem, und es gibt kein ausdrucksvolleres Wort als Grauen, um jene Augenblicke zu beschreiben, die der Morgendämmerung vorausgehen.
Adrienne zog die Decke über ihre Beine und drehte sich zur Wand, die sie mit den Händen berührte. Sie hörte ihren Atem und hielt ihn eine Sekunde lang für den Atem von jemandem, der sich über sie beugte, dieser abergläubische
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