Adrienne Mesurat
erst in zweieinhalb Stunden hier durch. Außerdem wollte sie nicht nach Paris, sie war mehrere Male dort gewesen und hatte immer nur ein unangenehmes Schwindel- und Fiebergefühl mit nach Hause gebracht. Sie trat in den Wartesaal und studierte den Fahrplan. In einer Viertelstunde ging ein Zug nach Montfort-l'Amaury. Irgend etwas an diesem Namen gefiel ihr, und sie löste eine Karte zweiter Klasse für diese kleine Stadt, deren historische Bedeutung auf einem farbigen Plakat gerühmt wurde. Nachdem dies erledigt war, spazierte sie im Wartesaal und auf dem Bahnsteig umher, ganz mit den Plänen beschäftigt, die sie in ihrem Kopf wälzte. Eine plötzliche Lebendigkeit ergriff von ihr Besitz, und als sie sich allein wußte, sagte sie mit lauter Stimme Sätze vor sich hin, die sie nicht zu Ende führte und die einem schwachen, willenlosen Menschen hätten gelten können, den man ermutigen und ein wenig drängen mußte.
»Na, los«, sagte sie halblaut, »los, schnell.« Und dabei blickte sie verstohlen um sich. »Schluß damit. Ich bleibe nicht länger hier, ich kann nicht mehr…«
Sie fürchtete, diese letzten Worte ein wenig zu laut gesprochen zu haben, und hustete, doch in ihrer Nähe war niemand, der sie hören konnte. Da kam ein seltsames Lachen aus ihrer Kehle, das sie in ihrem Taschentuch erstickte. Fast im gleichen Augenblick fuhr der Zug ein.
Die wenigen Reisenden, die mit ihr zusammen auf dem Bahnsteig warteten, stiegen in die dritte Klasse, und sie hatte keine Mühe, ein leeres Abteil zu finden. Als sie auf der mit blauem Tuch bespannten Bank saß und sich zuerst langsam, dann immer schneller fortgetragen fühlte, bekam sie Lust, aufzuspringen und zu singen. Zum ersten Mal reiste sie allein, und zum ersten Mal hatte sie auch den Eindruck, frei zu sein. Endlich war sie den unerklärlichen Zwang los, unter dem sie in der Villa des Charmes so sehr litt, sie mußte nicht mehr mit sich selbst kämpfen, um an gewisse Dinge nicht zu denken. Als sie sah, wie Bäume, Häuser, die ganze verhaßte Landschaft um La Tour-l’Evèque sich entfernten, spürte sie etwas in ihrer Brust hochkriechen, aber es war nicht die ängstliche Beklemmung von vorhin.
Sie nahm ihren Hut ab, der sie am Kopf drückte, und öffnete die beiden Fenster, um die schlechte Luft aus dem Abteil zu lassen. Der Wind blies ihr in die Haare, und sie warf den Kopf zurück, lauschte dem gleichmäßigen Rattern des Zuges; das Geräusch war nicht unangenehm, man hätte meinen können, dieses dumpfe Hämmern habe einen verborgenen Sinn und wecke in ihr einen geheimen Widerhall, wie ein Satz aus monotonen Lauten, den man endlos wiederholt, damit er für alle Zeiten in die Seele dringt. Sie schlief ein.
Der Zug war eben in den Bahnhof von Montfort eingefahren, als sie erwachte. Stille und Bewegungslosigkeit rissen sie aus dem Schlaf. In aller Eile setzte sie ihren Hut auf, nahm Koffer und Schirm und sprang auf den Perron. Ein Bahnbeamter, der sie besorgt und auch ein wenig verwirrt nach allen Seiten blicken sah, zeigte ihr den Ausgang.
Sie kam auf einen von Bäumen umsäumten Platz, den der Regen aufgeweicht hatte. Eine weiße Straße, deren Ende sie nicht sehen konnte, führte zwischen Feldern und Wald schnurgerade aufs Land hinaus. Sie kehrte um und fragte einen Bahnbeamten, wo die Stadt sei. Er deutete zur Straße und antwortete, zu Fuß brauchte sie eine halbe Stunde, aber sie könne auch einen Wagen nehmen. Und tatsächlich warteten zwei oder drei Droschken vor dem Bahnhof.
Sie zögerte. Es regnete immer noch, und das Wetter schien sich an diesem Tag nicht mehr ändern zu wollen. Andererseits betrachtete Adrienne eine Fahrt mit dem Wagen beinahe als eine Art Luxus. Schnell berechnete sie, wie hoch die Ausgabe wäre: schließlich nahm sie den Betrag ja von ihren Ersparnissen und nicht von dem Geld, das sie monatlich bekommen sollte; dieses Argument trug den Sieg davon. Sie ging zu einer Droschke und kletterte unter das Lederverdeck, nachdem sie dem Kutscher zugerufen hatte, sie in die Stadt zu fahren.
Bis an den Ortsrand von Montfort-l'Amaury ist die Straße gepflastert und von Bäumen gesäumt. Rechts und links davon sieht die Landschaft gleich aus, und an einem Regentag ist sie so trübselig wie nur irgend möglich. Alles, was Adrienne erblicken konnte, wenn sie sich auf der Sitzbank vorbeugte, war eine ununterbrochene Folge grüner Felder, die in Wind und Regen auf und ab wogten. Am Horizont schienen unregelmäßig gepflanzte Baumreihen näher
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