Adrienne Mesurat
Erkenntnis, betrogen worden zu sein. Ihr war, als müsse diese Demütigung sie umbringen. Wahrscheinlich hatte Madame Legras in der Stadt herumgeschwatzt, wie Frauen ihrer Sorte es gewöhnlich tun. Und gewiß hatte sie auch die Innigkeit ihrer Beziehungen übertrieben, tausend Dinge weitererzählt, die sie ihr in unverzeihlicher Naivität anvertraut hatte. Wie sehr mochten die Leute über sie beide gelacht und gespottet haben!
Sie dachte daran, wie Madame Legras ihr die Zukunft vorausgesagt und wie dieselbe Madame Legras sie über die Einkünfte ihres Vaters ausgefragt hatte. Das alles paßte so gut zu der Vorstellung, die sie sich von Frauen dieses Gewerbes machte, daß sie sich fragte, ob sie denn nicht ganz bei Trost war, es nicht schon früher begriffen zu haben. Und bei jeder Erinnerung stöhnte sie vor Empörung auf.
Doch andere, noch beunruhigendere Überlegungen steigerten ihre Angst. Bestimmt hatte es sich Madame Legras nicht entgehen lassen, über den Tod von Monsieur Mesurat zu reden. Was hatte sie gesagt? Welche Rolle hatte sie seiner Tochter in dieser Geschichte unterstellt?
Adrienne stand auf und machte ein paar Schritte durch den Raum. Madame Legras' argwöhnische Miene, die zweideutigen Sätze, deren sie sich gern bediente, was hatte das wirklich zu bedeuten? Natürlich war Adrienne diese Frage bereits durch den Kopf gegangen, aber bisher hatte sie sich immer nur träge gesagt: »Sie ist eine hinterlistige Person, sie spielt ein doppeltes Spiel«, und sich sozusagen verboten, ihre Überlegungen weiter zu treiben, aus Furcht festzustellen, daß sie auf diese Gesellschaft unter allen Umständen verzichten mußte; jetzt aber wachte sie auf. Das alles mußte ein Ende haben. Sonst würde diese Frau noch die ganze Stadt gegen sie aufbringen, sie verhaften lassen wie eine Verbrecherin. Und laut, im Brustton der Überzeugung sagte sie: »Eine Verbrecherin, ich!« Dieser Gedanke empörte sie so sehr, als sei er ihr bis zu diesem Augenblick noch nie gekommen. Sicher hatte sie gehört, wie Madame Legras infame Andeutungen machte, und sie hatte Angst bekommen; aber hatte sie tatsächlich geglaubt, diese Frau verdächtige sie eines Mordes? Wenn sie es geglaubt hätte, wäre sie dann Tag für Tag zu ihr gegangen? Wäre sie nicht vielmehr geflohen? Jetzt gab es allerdings keinen Zweifel mehr. Sie war ein liederliches Frauenzimmer und somit der niederträchtigsten Berechnungen fähig. Was sollte sie tun?
Sie lehnte sich an den Kamin und legte die Finger auf die Augen; in dem Dunkel, das sie auf diese Weise schuf, sah sie rote Linien vorbeiziehen. Es regnete stärker. Man hörte die Tropfen auf den blechverkleideten Sims des halb geöffneten Fensters fallen. Eine Weile später setzte Adrienne sich an das runde Tischchen, den Oberkörper über die Marmorplatte gebeugt, denn sie hatte nicht mehr die Kraft, sich geradezuhalten. Sie hatte das Gefühl, nicht erst seit einem Monat, sondern seit Jahren allein in diesem Haus zu leben. Unwillkürlich tauchte das Gesicht ihres Vaters vor ihr auf. Da dachte sie: »Seit dem Tod meines Vaters, dem Tod meines Vaters…«, und es war, als habe sie einen Schleier über dieses Ereignis geworfen, der sie hinderte, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten; dieser alltägliche Ausdruck stellte sie zufrieden durch die Normalität, die er dem schrecklichen Ende von Monsieur Mesurat verlieh, und verdrängte zugleich eine schaurige Wirklichkeit in die Tiefen der Erinnerung.
Um sich noch besser zu wappnen, ließ sie ihre Gedanken zum Doktor schweifen. Von ihrem Platz aus konnte sie das weiße Haus sehen, und sie betrachtete ein Stück Mauer und eine Ecke vom Dach mit der erschöpften und traurigen Freude eines Menschen, der allzu lange der Versuchung ausgesetzt war und schließlich nachgibt. Hinter dieser Mauer lebte ein Mann, der sie mit einem Wort für immer glücklich machen konnte. Im Geiste zeichnete sie sein Porträt. Warum ging sie nicht zu ihm, sprach nicht mit ihm? Warum? Weil sie zu lange gewartet hatte und der Augenblick vorbei war. Mit dem Aberglauben von Menschen, die durch Einsamkeit scheu geworden sind, bildete sie sich irgendwie ein, alle Taten ihres Lebens wären durch einen unbekannten Willen vorherbestimmt und es gäbe nur einen Augenblick, einen einzigen Augenblick, um zu handeln. Diesen Augenblick mußte man im Vorüberfliegen abfangen, denn die Zeit trug ihn mit sich fort und brachte ihn nie wieder. Eine Stunde, eine Minute hatte es gegeben, und in der hätte sie ihren
Weitere Kostenlose Bücher