Adrienne Mesurat
und folgte der Wirtin. Sie gingen durch eine Tür hinten im Saal hinaus, überquerten einen kleinen Hof und stiegen eine weiße Holztreppe zwischen zwei grüngestrichenen Wänden hinauf. Während sie hinter ihr herging, betrachtete Adrienne die Füße der Wirtin in ihren schwarzen Wollstrümpfen, die dicken Knöchel, die bei jeder Bewegung des grauen Rocks hervorschauten, und wieder wäre sie am liebsten geflohen, leise hinuntergegangen und hinaus auf die Straße geeilt. Wie schnell sie laufen würde! Aber sie hatte nicht die Kraft dazu.
Oben angelangt, öffnete die Wirtin eine Tür und zeigte ihr ein Zimmer, in dem ein eisernes Bett fast den ganzen Platz einnahm; sie schloß die Tür sofort wieder und sagte:
»Das ist an Leute aus Paris vermietet.«
Sie ging einen Flur hinunter.
»Das hier auch«, sagte sie und deutete mit dem Daumen auf eine Tür.
Vor einer dritten Tür blickte sie Adrienne gerade in die Augen und sagte:
»Das hier kann ich Ihnen bis morgen überlassen.«
Sie schloß auf. Es war ein quadratisches Zimmer mit einem großen Holzbett und einem viel zu kleinen Fenster, durch das man eine gekalkte Mauer auf der anderen Straßenseite und Baumwipfel sah. Auf einem Tisch aus Fichtenholz stand eine Waschschüssel.
»Gut«, sagte Adrienne.
Sie legte ihren Koffer auf das Bett und schlug vor dem stechenden Blick der Wirtin die Augen nieder.
»Ich nehme das Zimmer«, sagte sie.
Als sie wieder hinunterkam, sah sie den Arbeiter nicht weit von dem Platz entfernt sitzen, den sie sich ausgesucht hatte. Er aß und las dabei in einer Zeitung. Sie setzte sich ebenfalls und begann zu essen, was man ihr brachte, mußte aber immer wieder einen Blick zum Tisch des Arbeiters werfen. Diese Nachbarschaft gefiel ihr. Es war ihr wichtig zu wissen, daß sie nicht allein war. Vor ihr, auf dem Kamin aus schwarzem Marmor, lehnte ein großer Kalender an einem Spiegel, der mit der Zeit trüb geworden war.
Adrienne aß wenig, trank aber, um sich aufzuwärmen, den mittelmäßigen Wein, den man ihr vorgesetzt hatte. In der Stille lauschte sie dem Rascheln der Zeitung, die der Arbeiter unablässig zusammen- und wieder auseinanderfaltete; manchmal beugte er sich mit einer Art Gier über die Seite und führte dabei etwas zum Mund. Er war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, das Gesicht mit Gips bespritzt, die Augen glänzend und neugierig; manchmal wischte er sich mit dem Handrücken über den kleinen blonden Schnurrbart und beobachtete Adrienne verstohlen. Einmal trafen sich ihre Blicke. Sie wollte sehen, wie weit er mit dem Essen war, sich vergewissern, daß er noch nicht ging. Als sie begriff, daß er sie ertappt hatte, wurde sie rot und wandte die Augen ab.
»Schlechtes Wetter für eine Reise«, sagte er und ließ die Zeitung sinken.
Adrienne nickte.
»Sie sind wohl nicht von hier aus der Gegend?« fing er wieder an.
Sie biß sich auf die Lippen. Warum hatte sie auch so auffällig um sich blicken müssen? Als ob es nicht genügte, daß sie sich mit einer Madame Legras angefreundet und dann einer Kurzwarenhändlerin Auskünfte abgelistet hatte! Würde sie sich auch noch auf ein Gespräch mit einem Gipser einlassen? Es verstrichen ein paar Sekunden, die ihr endlos vorkamen. Der Arbeiter rührte sich nicht, sagte nichts. Sie hatte die Hände unter dem Tisch übereinandergelegt und saß reglos da. Plötzlich hörte sie ihn langsam, mit höhnischer Stimme sagen:
»Madame sind auf Reisen.«
Er lachte kurz und spöttisch auf, dann zeigte ein Rascheln von Papier an, daß er wieder seine Zeitung zur Hand nahm und weiterlas. Ihr Körper straffte sich, und sie trank einen Schluck Wasser.
Wie sehr sie sich auch Mühe gab, sie konnte ihre Mahlzeit nicht fortsetzen, alle Gerichte kamen ihr ungenießbar vor; ihr schien, die wenigen Bissen, die sie sich gezwungen hatte hinunterzuschlucken, steckten ihr im Hals und mußten sie gleich ersticken; das faserige Fleisch, das mit Wasser angerührte Kartoffelpüree widerten sie an. Nur der Wein mit seinem herben und rauhen Geschmack gefiel ihr. Sie trank ein ganzes Glas.
Beim Hereinkommen hatte sie gefroren, jetzt war ihr warm, fast zu warm. Sie erhob sich ein wenig von ihrem Stuhl und sah in dem trüben Spiegel, daß sie rot war. Das Blut stieg ihr in den Kopf und pochte in den Schläfen. Sie setzte sich wieder. Ein plötzliches Verlangen zu weinen überkam sie, aber ihre Augen blieben trocken. Nicht aus Traurigkeit hätte sie geweint, sondern vor Wut, vor Wut über sich selbst. Was
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