Adrienne Mesurat
Hut aufsetzen müssen, über die Straße gehen und an der Tür des weißen Hauses läuten … Nun blieb ihr nichts anderes übrig, als zu leben wie es eben ging, mit ihrer sinnlosen Reue und ihrer Liebe, der sie aus Ungeschick nicht zum Sieg verholfen hatte.
Sie wehrte sich nicht, sie ließ die Erinnerung an frühere Hoffnungen wieder in sich hereinströmen und ihr das Herz zerreißen. Ihr schien, als würde sie auf diese Weise bis auf den Grund ihrer Qualen vordringen, so wie man zu einem Zufluchtsort vordringt. Und hier würde nichts mehr sie erreichen können.
Und mit plötzlicher Entschlossenheit erhob sie sich und ging in Germaines Zimmer hinauf. Sich an dieses Fenster zu stellen und hinüberzuschauen würde gewissermaßen ein Beweis ihrer Kraft sein; es würde ihr zeigen, daß sie keine Angst mehr hatte, daß sie in ihr Schicksal ergeben war, daß diese Ungewißheit aus schmerzlicher Hoffnung und schmerzlicher Furcht überwunden war.
Sie trat in das Zimmer, öffnete das Fenster und beugte sich, die Hände an die Dachrinne geklammert, hinaus. Regentropfen fielen auf ihre Haut. Ihr Herz schlug in jenem gehetzten Rhythmus, der ihr wohlvertraut war und dessen Widerhall sie von Kopf bis Fuß zu erschüttern schien. Sie sah das weiße Haus, und wie früher wanderte ihr Blick vom Dach, das im Regen gleißte, zu dem Baum, den der kleinste Lufthauch erzittern ließ; sie wollte nicht gleich zu dem Fenster hinüberschauen, sparte es sich auf als Vergnügen und Prüfung, bemühte sich, es nicht zu sehen.
Heute stand jemand am Fenster. Sie wußte es, als sie das Dach und den Baum betrachtete, und deshalb pochte ihr Herz, aber diesmal wich sie nicht zurück, sie wartete eine Weile, dann schlug sie die Augen nieder. Es war ein Kind, ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren, der sich über die Brüstung beugte und versuchte, mit dem Ende einer Kreiselpeitsche den Rand der Dachrinne zu erreichen. Sie hielt den Atem an und verfolgte dieses Spiel. Das Kind streckte die Hand aus, hielt den Peitschengriff nur mit den Fingerspitzen. Es hatte schwarzes Haar. Sie konnte nur seinen Kopf sehen, sein Gesicht war hinuntergebeugt, der Mund ruhte wahrscheinlich auf der Fensterbrüstung. Es war in einen blaukarierten Kittel gekleidet, unter dem nur ein Umlegekragen hervorschaute, dessen Weiß zu seinem Haar einen scharfen Kontrast bildete.
Sie verharrte reglos, bis der Junge das Fenster verlassen hatte, dann richtete sie sich auf und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. Die Tür war halboffen geblieben; sie machte sie zu. Sie machte auch das Fenster zu, dann setzte sie sich auf einen Stuhl. Diese Bewegungen führte sie langsam aus, als wäre sie darauf bedacht, eine bestimmte Reihenfolge einzuhalten. Und plötzlich, in der erstickenden Stille dieses kleinen Raums, überließ sie sich der ganzen Traurigkeit, die sie vergeblich zurückzudrängen suchte, und Tränen rannen ihr über die Wangen.
IV
Wenige Minuten später hastete sie die Treppe hinunter. Es war ihr unmöglich, länger in diesem Haus zu bleiben, viel zu unglücklich war sie hier gewesen, als daß sie den Anblick dieser Wände und dieser Möbel und all der Zeugen ihres Leidens hätte ertragen können, die sie beständig an dieses erinnerten und es in ihrem Herzen neu aufflackern ließen. Sie lief in ihr Zimmer, warf ein paar Sachen bunt durcheinander in einen kleinen Koffer, nahm dreihundert Franc aus der Olivenholzschatulle, und nachdem sie Désirée mitgeteilt hatte, sie wolle für ein, zwei Tage verreisen, verließ sie die Villa des Charmes.
Sie war froh über ihren Entschluß. Vor kaum fünf Minuten hatte sie in einem geschlossenen Zimmer gesessen und gejammert. Auf einmal war ihr bewußt geworden, wie dumm es war, so zu weinen, sich vom Leben niederdrücken zu lassen, ohne daß sie sich zu wehren versuchte; und nun ging sie zum Bahnhof, mit festem, schnellem Schritt, der sie anspornte, den Koffer in der einen, ihren Regenschirm in der anderen Hand. Es regnete immer noch. Im Gehen lauschte sie dem harten Aufschlagen der Tropfen auf der gespannten Seide und bemühte sich, eine Art Rhythmus herauszuhören. Ihr schien, solch kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, beweise ihr die eigene geistige Unabhängigkeit und erhebe sie gewissermaßen über sich selbst. Vielleicht hatte es ihr gut getan zu weinen, sie schämte sich, und zugleich fühlte sie sich stärker.
Vor dem Bahnhof angekommen, überlegte sie, wohin sie fahren sollte. Der Zug nach Paris kam
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