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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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Adrienne sah ihre weißen Lider und den Scheitel in ihrem straff gekämmten grauen Haar.
    »Wenn Mademoiselle wählen möchte …«, sagte die Kurzwarenhändlerin mit ruhiger Stimme. Und im selben Tonfall fügte sie hinzu:
    »Sie sagte, sie kennt Sie sehr gut.«
    »Das stimmt«, antwortete Adrienne in einem plötzlichen Mitteilungsbedürfnis, das sie gleich wieder unterdrückte. Mit den Fingerspitzen schob sie einige Spulen hin und her, ohne sich jedoch für eine zu entscheiden.
    »Sie ist für ein paar Tage verreist«, fuhr sie geistesabwesend fort. »Ich habe sie gestern nachmittag gesehen. Sie mußte eine Fahne nähen. Ich habe ihr geholfen.«
    »Mademoiselle hat einen schweren Schlag erlitten«, fing die Kurzwarenhändlerin nach kurzem Schweigen wieder an. »Das sagte ich auch zu Madame Legras…«
    Adrienne blickte ein wenig auf und sah die beiden Hände von Mademoiselle Grand, mit denen sie sich auf den Ladentisch stützte. Lange Hände, deren braunfleckige Haut an den Fingerknöcheln runzelig war, harte Hände. Sie seufzte und griff nach einer Spule, die sie prüfend betrachtete.
    »Der Mann von Frau Legras ist im Handel tätig?« fragte sie plötzlich und legte die Spule zurück.
    »Monsieur Legras?« sagte die Kurzwarenhändlerin.
    Sie lachte leise auf, kaum vernehmbar. Adrienne sah sie an.
    »Ist er nicht im Seiden- und Baumwollhandel tätig?« fragte sie mit leichter Unruhe in der Stimme.
    Mademoiselle Grand zuckte ein wenig die Schultern und lächelte.
    »Ich kenne keinen Monsieur Legras«, sagte sie.
    »Aber sie hat mir erst gestern von ihm erzählt, sie sagte, er sei im Seiden- und Baumwollhandel.«
    »Ich behaupte ja nicht, daß sie nicht jemanden im Spinnereigewerbe kennt…«
    Adrienne lachte nervös.
    »Und ihr Mann…«, meinte sie.
    Die Kurzwarenhändlerin neigte den Kopf zur Seite und kratzte mit der Fingerspitze am Rand der Schachtel.
    »Ich möchte nicht indiskret sein«, sagte sie schließlich.
    »Davon kann gar keine Rede sein«, erwiderte das junge Mädchen und beugte sich über den Ladentisch. »Das alles bleibt unter uns. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
    Zum ersten Mal hob Mademoiselle Grand die Lider und heftete ihre farblosen Augen auf Adrienne. Die beiden Frauen sahen einander eine Weile an.
    »Dieser Herr scheint sehr großzügig zu sein«, sagte die Kurzwarenhändlerin und senkte wieder den Kopf.
    »Hat sie Ihnen das gesagt?«
    »Ja«, flüsterte Mademoiselle Grand mit kaum hörbarer Stimme.
    Man hätte meinen können, sie gestehe ein Verfehlung.
    »Natürlich«, fuhr sie fort, »hat sie mir nie gesagt, daß dieser Herr nicht ihr Mann ist, das können Sie sich wohl denken. Aber es ist bekannt, obwohl sie nichts davon ahnt. Hier wissen alle Bescheid.«
    Adrienne war wie vor den Kopf geschlagen. Sie erinnerte sich an das, was ihr Vater über Madame Legras gesagt hatte. Unzählige Kleinigkeiten, deren Sinn sie nicht verstanden hatte, fielen ihr wieder ein: die auffällige Art, mit der sich diese Frau schminkte, ihre Umgangsformen, die allzu schnell vertraulich wurden, und dazu diese Stimme, alles, was sie abgestoßen hatte, konnte sie sich nun durch das eben Gehörte erklären. Warum hatte sie es nicht früher begriffen? Aber woher sollte sie auch wissen, wie weit die Unverschämtheit solcher Kreaturen ging, die nicht davor zurückschreckten, sich in der Öffentlichkeit, im Konzert zu zeigen. Denn sie zögerte nicht, Madame Legras in die widerwärtigste Kategorie einzureihen. Ihre Stirn und Wangen glühten. Noch nie war sie in ihrem Stolz so tief verletzt worden. Sie hatte sich also mit einer Straßendirne angefreundet. Etwas bebte in ihr, plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie eine Mesurat war, aber eine beinahe entehrte, beinahe beschmutzte Mesurat. Sie zog den Hutschleier wieder vors Gesicht, nahm ihre Handschuhe und die Zwirnspule und bezahlte ohne ein weiteres Wort.
    Draußen holte sie die Spule aus ihrer Tasche und warf sie in den Rinnstein.
    Ein leichter Regen fiel, Regen, der fein war wie Nebel und vollkommen lautlos. Dennoch spannte Adrienne ihren Schirm auf und begann zu laufen. Jetzt kümmerte es sie wenig, gesehen zu werden, sie wollte auf kürzestem Weg nach Hause.
    Als sie wieder daheim war, machte sie sich nicht einmal die Mühe, Hut und Jacke abzulegen, sondern setzte sich in einen Winkel des Salons, den Oberkörper vorgebeugt und die Arme auf die Knie gestützt, in einer Haltung tiefster Niedergeschlagenheit. Was ihr das Herz mehr zerriß als alles andere, war die

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