Adrienne Mesurat
machte sie hier in diesem Gasthof? War sie hier glücklicher als in der Villa des Charmes? Sie spürte einen Druck in der Stirn, knapp über den Brauen. Wenn Tränen aus ihren Augen geflossen wären, hätte sie das bestimmt erleichtert, aber diese vergeblichen Versuche, endlich weinen zu können, zermürbten sie. Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte ihre glühende Wange in die Hand. Die Augen fielen ihr zu. Sie hatte das Gefühl, alles um sie herum verändere sich. Das Geräusch, das der Arbeiter jedesmal machte, wenn er mit der Gabel seinen Teller berührte, drang mit einem merkwürdigen Klang an das Ohr des jungen Mädchens, mit einem Klang, den ein unausgesetztes Dröhnen entstellte. Das ging eine Weile so. Als Adrienne die Augen wieder aufschlug, fiel ihr Blick auf die mit violetter Tinte hingekritzelte Speisekarte. Sie starrte darauf, ohne sie lesen zu können, und plötzlich zuckte ihr ein Gedanke durch den Kopf. Vorhin hatte sie auf dem Kamin einen Bleistift gesehen; sie streckte die Hand aus und griff danach, dann drehte sie die Speisekarte um und schrieb: Monsieur…
Aber sie machte einen Strich mitten durch das Wort, langsam, als denke sie dabei an etwas anderes; wieder strich sie das Wort durch, diesmal ungestümer, bis es ganz verschwunden war, und auf einmal schrieb sie folgende Worte nieder: Hier, in Montfort, am 11. Juli 1908, war ich unglücklicher als je zuvor. Ich war Ihretwegen unglücklich. Werden Sie niemals Mitleid mit mir haben?
Jetzt liefen ihr Tränen übers Gesicht. Sie faltete das Blatt und steckte es in ihr Kleid. Die Worte, die sie aufgeschrieben hatte, befreiten sie in gewisser Weise, und sie fühlte sich ein wenig besser. Sie stieß einen Seufzer aus und schneuzte sich.
Als die Wirtin mit einem Stück Käse und etwas Obst hereinkam, teilte Adrienne ihr mit halbwegs fester Stimme mit, sie habe ihre Meinung geändert und wolle nicht bleiben, das Wetter sei zu schlecht. Ohne ihren Nachtisch anzurühren, bezahlte sie und ging hinauf, um ihren Koffer zu holen.
In dem kleinen Zimmer mit den weißverputzten Wänden überkam sie eine Freude, als wäre sie eben einer Gefahr entronnen. Es bereitete ihr Vergnügen, sich die Schauerlichkeit dieses Ortes in der Dämmerung auszumalen, wenn sie schon weit entfernt wäre. Heimtückisch würde die Nacht durch dieses kleine Fenster kriechen, das nur eine lange Mauer und im Regen schimmernde Bäume sehen ließ. Was für Stunden hätte sie in diesem Bett mit dem roten Plumeau verbracht, in diesem abgelegenen Haus, das schon an einem Regentag so trostlos wirkte? Sie packte ihren Koffer und stürzte hinaus.
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Als sie durch den Speisesaal kam und auf die Tür zuging, hörte sie die Wirtin, die gerade den Kaffee servierte, mit dem Arbeiter sprechen. Sie sah nicht zu ihnen hin, aber sie spürte, daß die Blicke ihr mit feindseliger Neugier folgten, und sie hörte, wie die Frau mit der Schürze sagte:
»Ich hab es mir ja gleich gedacht, so eine…«
V
Sie spannte ihren Schirm auf und begann trotz aller Müdigkeit zu laufen. Sie wunderte sich, daß sie so schnell war, so große Schritte machen konnte. Es schien, als würde sie von einer Bewegung mitgerissen, über die sie keine Gewalt hatte, als fliehe sie vor jemandem, dessen Schritte sie hinter sich hörte. In wenigen Minuten hatte sie die Kirche erreicht, der sie unter der tropfnassen Seide ihres Schirms nur einen flüchtigen Blick schenkte. Diese grünen Steine, die aussahen, als sei ein Fluß über sie hinweggeronnen, diese Steinplatten vor dem Portal, auf die der Regen niederprasselte, kamen ihr auf einmal so fern, so fremd vor im Vergleich mit dem, was sie selbst war, daß es ihr einen Schlag versetzte. Plötzlich beschlich sie ein bisher unbekanntes Gefühl: die vollkommene Gleichgültigkeit aller Dinge gegenüber dem, was in ihr vorging, die Gleichgültigkeit dieser Kirche und dieses Platzes gegenüber ihrem Schmerz, die Gleichgültigkeit von Millionen Menschen gegenüber ihrem Schicksal. Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an ihre Einsamkeit. Sie überquerte den Platz und trat in ein Café, um mit jemandem zu sprechen.
Das Café war leer, es hätte sie auch überrascht, hier jemanden anzutreffen. Dieses kalte und geizige Städtchen zeigte seine Einwohner nicht gern her, sondern versteckte sie in den Häusern. Sie rief. Nach einer Weile tauchte ein Mann auf. Er war vom Essen aufgestanden und wischte sich den Mund. In seinen Augen konnte man den Arger über diese
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