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tunlichst sämtliche Erfindungen, die nach dem zwanzigsten Jahrhundert aufgekommen sind. Ihre Wünsche werden streng beachtet; es handelt sich oft um verdiente Bürger, die ein Recht auf ihren Glauben haben, daß die Technik zum Tod geführt hat und Gott von uns will, auf alle Mittel zu verzichten, die im Werk des Edlen Nader und seiner Apostel vom Berg nicht verzeichnet sind.)
Sie hatte den Namen Nader einige Male gehört, aber es dauerte eine Weile, bis sie den richtigen Gebrauch der Funktion »Fußnote« beherrschte. Dabei fragte sie Erklärungen ab, die jeder Steinler als bekannt vorausgesetzt hätte. Dies löste wiederum einen Abriß der Geschichte des Steins und der Zeit zwischen dem Tod und dem Bau der Thistledown aus.
Sie war ziemlich schockiert, als sie hörte, daß es sich beim Edlen Nader tatsächlich um Ralph Nader handelte, den Verbraucherschützer und kritischen Mahner, der in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts für großes Aufsehen gesorgt hatte. Er lebte noch, daheim auf der Erde – ihrer Erde, der Erde ihrer Zeit. In den Bibliotheksaufzeichnungen wurde sein Name jedoch mit Hochachtung gebraucht. Er war stets der »Edle Nader« oder der »Gute«. Die nach ihm benannten Naderiten waren eine bedeutende politische Kraft, und das schon seit Jahrhunderten. Oder vielmehr – würden es sein. Patricia nahm sich vor, von nun die Zeit streng physikalisch als Aufeinanderfolge zu betrachten und keine Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft mehr vorzunehmen.
Nach dem Tod, dem tückischen Langen Winter und den Revolutionen der Wiederaufbauzeit kam in den Trümmern von Westeuropa ein Spanier namens Diego Garcia de Santillana an die Macht, der sich der Zurück-zum-Leben-Bewegung verschrieben hatte. Er begründete den Ruf nach einer versuchsweisen Weltregierung. Im folgenden Jahr 2010 (es sind nur noch fünf fahre bis dahin, sagte sich Patricia, die damit ihren Vorsatz brach) bildeten sich die ersten Naderitenkoalitionen in Nordamerika. Nader, während des Todes zum »Märtyrer« geworden, war erwählt worden wegen seines unerschrockenen Kampfes gegen die Atomkraft und übertriebene Hochtechnologie. Ob seine Erhöhung nun verdient war oder nicht, er wurde zum Heiligen, zum Helden der Ödlandflächen, die nach wie vor erfüllt waren von Furcht und Zorn gegen das, was der Mensch sich angetan hatte. 2011 vereinnahmten die Naderiten die Zurück-zum-Leben-Anhänger, und die wieder emporkommenden Regierungen von Nordamerika und Westeuropa schlossen einen Pakt zur Zusammenarbeit ab. Naderische Regierungen wurden mit überwältigender Mehrheit an die Macht gewählt und versuchten sofort, die Hochtechnologie und nukleare Forschung zu bändigen. »Landwirtschaft!« wurde zur Parole eines Drittels der Welt, und die Stürmer – eine elitäre, wiewohl etwas obskure Vereinigung – schwärmten in die Welt aus und »gewannen« zaudernde Regierungen für ihre Sache. In Rußland brachte die Revolution von 2012, die von Naderischen Sympathisanten angestachelt worden war, den letzten Volksrat der UdSSR zu Fall, der sich bereits ins Zentrum seiner Macht, die Sowjetrussische Sozialistische Bundesrepublik, zurückgezogen hatte. Im gesamten Ostblock gewannen die Nationen ihre politische Unabhängigkeit zurück und wandten sich meist den Naderiten zu.
Das erklärte zumindest das häufige Vorkommen von »Nader« in den Aufzeichnungen. Zwischen 2015 und 2100 festigten die Anhänger des »Guten« ihre Macht über ein Drittel des Erdballs. Zäher Widerstand wurde ihnen in diesen Jahrzehnten nur in Asien entgegengesetzt, wo die Großasiatische Kooperative – bestehend aus Japan, China, Südostasien (sporadisch) und Malaysia – sich vom Naderismus lossagte und für die Technik begeisterte, so daß Forschung, Hochtechnologie und sogar Atomkraft fröhliche Urständ feierten. Die erste wirkliche Opposition gegen die Naderiten im Westen formierte sich im Jahre 2100 in den Reihen der Volksbewegung von Großdeutschland.
Patricia schaltete das Gerät ab und lehnte sich, die Augen reibend, zurück. Die Informationen waren teils in Druck, teils in ausgewählten Bildern und teils in noch kritischer ausgewähltem Originalton übermittelt worden. Sofern dokumentarische Belege in Multimedia-Art nicht zur Verfügung standen, wurde mit Texten gearbeitet, die allerdings verbal – unaufdringlich, aber deutlich – unterlegt waren. Im Vergleich dazu mutete bloßes Lesen qualvoll und die gegenwärtigen
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