Äon
mal Urlaub! Ich warte inzwischen draußen, da Zuschauen keinen Spaß macht und ich hier weiter nichts zu tun habe als dich einzuweisen. Komm nach, wenn du fertig bist! Sagen wir – so in einer Stunde?«
Es war ihr eher unangenehm, allein in dem hofähnlichen Raum zu sein; daß Lanier in der Bibliothek von Alexandria bei ihr geblieben war, dafür war sie ihm dankbar gewesen. Dennoch erklärte sie sich mit einem Kopfnicken einverstanden und setzte sich bequem zurecht, während sie mit einer Hand die Tastatur bediente. Eine simple, runde Grafikanzeige erschien vor ihr, die gestochen scharf und dicht wie zum Anfassen war. Takahashi hatte sie in einem Punkt falsch eingewiesen, denn ihr Gefummel löste ein Lehrprogramm aus. Es korrigierte ihre Fehler und erläuterte – in nahezu perfektem amerikanischen Englisch – die korrekte Bedienung des Geräts. Dann nannte es Rufnummern und Codes für andere Informationen.
Sie rief eine Einführung für Studenten in die Stadt der zweiten Kammer ab. Im nächsten Augenblick war sie von Alexandria umgeben. Sie hatte den Eindruck, auf einem der unteren Balkons eines der Mega-Häuserzu stehen und auf eine belebte Straße zu schauen. Die Illusion war vollkommen – versorgte sie sogar mit der Erinnerung, wie »ihr« Apartment aussah. Sie konnte den Kopf drehen und hinter sich blicken, wenn sie wollte; sie konnte sogar umhergehen, obwohl sie wußte, daß sie saß.
In beiden Ohren – oder irgendwo in ihrer Schädelmitte – erläuterte eine Stimme, was sie sah.
Sie blieb eine halbe Stunde in Alexandria und betrachtete die Kleider, die getragen wurden, die Gesichter, die Frisuren, die Mienen und das Benehmen insgesamt. Die eine oder andere Mode gefiel ihr. Zuweilen war die Kleidung eher züchtig. Am beliebtesten in jener dargestellten Epoche war bei Damen eine opake Robe – gewöhnlich in Pink oder Orange – mit Kapuze und einer kleinen, lachsroten Scheibe aus irgendeinem duftigen Material. Manche Damen trugen ein sechseckiges blaues Zeichen an der linken Schulter…
(»?«
Für Informationen über Dienst- und Rangabzeichen bitte folgenden Code sprechen…)
… und andere eine rote Schärpe über der rechten Schulter mit goldenen Perlen daran. Die Männlichkeit kleidete sich nicht minder pompös oder schlicht; die Unterschiede schienen auf sexuelle Neigungen hinzuweisen, die sich im Vergleich zu Patricias Zeitgenossen offenbar gewandelt hatten.
Sie hörte sie sprechen. Es war ein eigenartiger Kauderwelsch, der an Walisisch erinnerte, aber englische oder französische Brocken enthielt.
(»In welcher Sprache hast du – hat die Maschine – zu mir gesprochen und woher weißt du?«
Englisch des ausgehenden einundzwanzigsten Jahrhunderts, die früheste Sprache ohne speziellen Code, die zur Verfügung steht und ausgewählt wurde aufgrund deiner Unterhaltung vor dem Datenzugriff.)
Während ethnische Gruppen sich nach wie vor die angeglichene Muttersprache bewahrten, ging aus vielen Sprachen eine gemeinsame Sprache hervor – obwohl sprachliche Moden, wie sie unterschwellig belehrt wurde, auf kurze Sicht ungleich vielfältiger Verbreitung fanden. Rasche Veränderungen waren möglich geworden aufgrund des beschleunigten Lernvorgangs durch didaktische Medien wie diejenigen in der Bibliothek. Jede Sprache, jeder Jargon war innerhalb weniger Stunden oder Minuten erlernbar.
Was die Schrift anging, so zeigte sich, daß die Schreibweise oft vereinfacht oder – paradoxerweise – verkompliziert worden war. Gab es eine Zeit, als Schnörkel und Zierwerk in Mode waren?
(Das ist der berühmte Nader Plaza, der mit Architekturpreisen überhäuft worden war, bevor das Schiff Thistledown die Erde verließ…)
Sie nahm fasziniert auf, was sie hörte und sah. Manche Männer liefen hemdsärmelig in einer Art Schottenrock herum, während andere Geschäftsanzüge trugen, die durchaus ins Los Angeles des einundzwanzigsten Jahrhunderts gepaßt hätten. Schuhe schienen völlig aus der Mode gekommen zu sein. Vielleicht lag das daran, daß die automatisierte Stadtreinigung überall für makellose Sauberkeit sorgte.
(Wie steht’s mit sozialen Randgruppen? Ghettos? Siedlungen?)
Es wurde in eine andere Szene übergeblendet.
(Soziale Unruhen sind in Alexandria und im übrigen Stein nicht unbekannt. Gewisse Bezirke sind von der städtischen Versorgung ausgespart. Die Bürger dieser Bezirke haben sich aus religiösen Gründen dafür entschieden, auf alle modernen Annehmlichkeiten zu verzichten, und meiden
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