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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Entsetzen neue Kraft. Er kämpfte damit gegen die in ihm flüsternden Stimmen an, die er nicht verstand. Manchmal, wenn er blicklos in die Dunkelheit jenseits des Scheinwerferlichts starrte, glaubte er, in der Finsternis Augen zu sehen, die ihn beobachteten. Wenn er dann erschrocken die Lider senkte, sah er das Meer, wie es ein Junge vor achthundert Jahren gesehen hatte, spürte dabei eine Verzagtheit, die ihm Tränen in die Augen trieb.
    »Es muss hier irgendwo sein«, sagte Anna nach einer Weile; vielleicht waren auch schon Stunden vergangen.

    Ihre Stimme vertrieb einen Teil von Sebastians Benommenheit. Er blinzelte mehrmals und stellte fest, dass sie an einer Abzweigung gehalten hatte, neben einem Straßenschild, auf dem »Biķernieku iela« geschrieben stand.
    »Da hast du deine Straße namens › Bickernike ‹ «, fügte sie hinzu.
    Anna war blass und müde, das sah er deutlich. »Es tut mir leid«, sagte er rau und kam sich plötzlich wie ein Mistkerl vor. »Ich hätte dich nicht in diese Sache verwickeln sollen …«
    »Du brauchst Hilfe, Bastian, dringend«, erwiderte sie. »Du würdest erschrecken, wenn du dich im Spiegel sehen könntest.«
    »Ich fühle mich noch schlechter, das garantiere ich dir. Wo sind wir?«
    »Fast da, hoffe ich. Laut dem letzten Wegweiser müssten wir bereits in Jugla sein. Aber hier gibt es kein Dorf, nur vereinzelte Häuser.«
    »Dort drüben brennt Licht.« Sebastian zeigte zur Abzweigung. Ein einfacher Schotterweg mit Schlaglöchern voller Regenwasser führte von der Straße weg zu einem etwa zweihundert Meter entfernten Gebäude, und dort brannte eine Lampe in der Nacht. »Wir könnten nach dem Weg fragen.«
    »Es ist drei Uhr nachts«, sagte Anna. »Ich bezweifle, dass man Fremde um diese Zeit mit offenen Armen empfängt, und ein Anruf bei der Polizei könnte uns in große Schwierigkeiten bringen.«
    Sebastian fragte sich kurz, wie es Anna bis hierher geschafft hatte, durch Riga und vielleicht an Polizeisperren vorbei. Aber der Gedanke war ihm gerade durch den Kopf gegangen, als sich erneut bleierne Müdigkeit auf ihn herabsenkte. Er hörte,
dass Anna etwas sagte und das Brummen des Motors sich veränderte, und dann spürte er, wie der Wagen über den Schotterweg schaukelte. Doch diese Dinge spielten keine Rolle und verloren sich in Bildern, die ihm Wände aus Knochen zeigten …
     
    Sebastian schlief und wanderte.
    Er lag in einem Bett, das ihm normalerweise viel zu weich gewesen wäre, und gleichzeitig schritt er durch die Nacht, unbeeindruckt von Kälte und Regen. Hohe Bäume umgaben den alten Bauernhof und beugten sich im Wind. Der Wagen, mit dem sie gekommen waren, stand in der Scheune, geschützt vor neugierigen Blicken, die es hier gar nicht gab. Ein Schotterweg voller Schlaglöcher führte durch die Dunkelheit, und die nächsten Häuser waren fast einen Kilometer entfernt. Wald erstreckte sich zu beiden Seiten, und dort verdichtete sich die Dunkelheit, wurde schwarz wie die hintersten Winkel einer tiefen Höhle. Doch als Sebastian den Blick auf jene Finsternis richtete, sah er auch dort etwas: fallende Blätter, die Augen von kleinen Raubtieren, die nach Beute suchten. Und er hörte das Flüstern des Lebens: in den Bäumen, die sich auf den langen Winter vorbereiteten; in den Tieren, die instinktiv und reflexhaft auf ihre Umwelt reagierten. Er hätte sie rufen können, wusste Sebastian, doch er schwieg und beobachtete. Riga, die Hauptstadt Lettlands, war nicht weit, und doch vermittelte dieser Ort den Eindruck von völliger Abgeschiedenheit. Gut. Es machte gewisse Dinge einfacher.
    Welche Dinge?, fragte Sebastian, und ein anderer Teil von ihm antwortete: Du wirst sehen. Oder auch nicht. Vielleicht bist du dann schon wieder unterwegs.
    Unterwegs wohin?, fragte er, während er immer noch das
Gefühl hatte, im Regen zu stehen. Auch das wirst du sehen, lautete die Antwort.
    Nur einige Meter entfernt glühten plötzlich zwei Augen in der Finsternis und starrten ihn an, als könnten sie ihn sehen. Ein grauweißer Kater kam aus dem Gebüsch, den Körper dicht über dem Boden und die Ohren angelegt. Er fauchte leise, schlich über den Weg und huschte fort.
    Sebastian trat auf den Schotterweg, ging dort in die Hocke und presste beide Hände auf den Boden. Nach einigen Sekunden lächelte er zufrieden, richtete sich wieder auf und kehrte zum Hauptgebäude zurück. Die von den Reifen der Limousine im Schlamm hinterlassenen Furchen hatten sich mit Regenwasser gefüllt. Pfützen

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