Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
schwollen an, wuchsen zusammen und wurden zu kleinen Seen. Sebastian blickte kurz zurück und stellte fest, dass seine Füße keine Abdrücke hinterließen.
    Auf der Veranda des Hauptgebäudes blieb er stehen und sah zu den Ställen, die leer waren und sich im Wind zu ducken schienen. Der Anblick der alten Holzbauten erinnerte Sebastian an Zeiten, die er unmöglich selbst erlebt haben konnte und doch Bilder in ihm hinterlassen hatten, so deutlich wie die Erinnerungen von Nikolaus. Schmale Gassen mit stinkenden Abwasserkanälen. Einfache Häuser, die sich wie schutzsuchend aneinanderdrängten. Rauch, der aus rußgeschwärzten Schornsteinen kam und zu grauen Wolken aufstieg. Auf Kopfsteinen klappernde Pferdehufe. Eine große Stadt in der kalten Farblosigkeit eines Winters, der dem Sommer nicht weichen wollte. Ein wichtiges Treffen, das der Vorbereitung diente. Und jetzt, fast zweihundert Jahre später …
    Stimmen zerrissen die Bilder von der großen Stadt - viel größer als Riga -, und Sebastian stand neben dem Bett und
blickte auf sich selbst hinab, während er schlief und neue Kraft schöpfte. Der Platz an seiner Seite war leer. Anna befand sich noch im anderen Zimmer, bei Anatoli. Warum lag sie nicht bei ihm? Sie musste doch müde sein, nach dem langen Tag und all der Aufregung. Und wie hatte sie Anatoli gefunden?
    Du hast ihr den Weg gezeigt, dachte er. Wie kann ich ihr den Weg gezeigt haben, obwohl ich die Adresse nicht mehr wusste?, fragte er erstaunt. Und außerdem habe ich geschlafen.
    Oh, es war kein Schlaf. Hab Geduld, du wirst verstehen.
    Sebastian stand allein im Zimmer, vor dem Bett, in dem er schlief, in einem fremden Haus, umgeben von Dunkelheit. Er wollte hören, worüber die Stimmen hinter der Tür sprachen, aber sie verschmolzen miteinander, wurden zu einem Brummen, während ihm ein Durcheinander aus Wahrnehmungen entgegenströmte, dem er sich nicht entziehen konnte. Er glaubte, sich aufzublähen, ins Gigantische zu wachsen und dabei alles in sich aufzunehmen, die lebenden Dinge ebenso wie die toten. Er wurde zu einer riesigen Kugel, die durchs All raste. Wenn er das Gesicht hob, fühlte er sowohl die Hitze der Sonne als auch die Kälte des Alls, zwei Extreme, in deren Balance er existierte. Er sank etwas zurück, unter die schützende Decke der Atmosphäre, und dachte, wie angenehm dieser Ort doch war, die Erde. In diesen zwei oder drei Sekunden der Hyperexistenz war Sebastian alles, was jemals existiert hatte, all das Leben und die von ihm veränderten und geschaffenen Dinge. Mit klarem Blick sah er die verlorene Vollständigkeit der Existenz, die seit vielen Jahrtausenden klaffenden Lücken, die tiefen, dunklen Löcher dort, wo es ebenfalls Aktivität und Veränderung hätte geben sollen. Die Erinnerungen an das Damals waren noch schwach - er wusste, dass sie bald an Deutlichkeit
gewinnen würden -, aber sie erfüllten ihn mit tiefer Trauer, weckten gleichzeitig einen viele Jahrhunderte alten Zorn. Diesmal durfte nichts schiefgehen. Bald bekamen sie eine neue Chance, die erfolgreich genutzt werden musste.
    Er kehrte zurück in das Zimmer, in dem er - der andere Sebastian - schlief, hörte den ans Fenster prasselnden Regen und hörte auch, wie sich die Tür öffnete. Licht fiel ins Zimmer, aber nur für kurze Zeit, denn die Frau schloss die Tür sofort wieder. Sie trat zum Bett, ohne auf den stehenden Sebastian zu achten, blickte stumm auf den schlafenden hinab, und er musterte sie mit widerstreitenden Empfindungen. Etwas in ihm - ein emotionaler Schatten des anderen Sebastian - wollte sie umarmen, und noch mehr, doch ein Teil sehnte sich auch danach, sie zu verletzen und zu töten. Als Anna die Kleidung abstreifte und unter die Decke schlüpfte, fragte er sich, ob er in diesem Zustand dazu imstande gewesen wäre. Er erinnerte sich daran, dass seine Füße draußen im Schlamm keine Abdrücke hinterlassen hatten. Wäre es ihm möglich gewesen, der Frau die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken? Mit etwas mehr Kraft hätte er schneller wachsen können …
    Anna schob sich näher an den Schlafenden heran, und etwas zog den stehenden, trauernden und zornigen Sebastian zurück in den Körper. Er versuchte nicht, Widerstand zu leisten, denn es wäre ohnehin zwecklos gewesen; noch war er zu schwach. Als er einen Körper fühlte, der wieder feste Substanz hatte, hob er die Lider. Anna spürte es mehr, als dass sie es sah.
    »Tut mir leid, Bastian«, flüsterte sie. »Ich wollte dich nicht

Weitere Kostenlose Bücher