Äon - Roman
wecken.«
»Ich … hatte einen Traum«, sagte er langsam und leise. Er fühlte sich seltsam. »Ich war draußen, im Regen, und dann habe
ich hier im Zimmer gestanden …« Er schwieg bestürzt, als er sich an den Zorn und an den Wunsch entsann, Anna zu töten. Ein Schaudern erfasste ihn, bis hinunter in die Zehenspitzen.
Anna schlang die Arme um ihn. »Schlaf. Wir sprechen morgen über alles.«
»Bestimmt sucht man nach Ihnen«, sagte der Mann auf der anderen Seite des Tisches. Mit seinem grauen Bart, der bis auf die Brust reichte, dem langen, zotteligen Haar und der Faltenlandschaft seines Gesichts wirkte er wie jemand, der aus einem anderen Jahrhundert stammte. Anatoli war um die achtzig, und seine Kleidung schien kaum jünger zu sein. Sie hatte unzählige Waschgänge hinter sich, und die Farben waren längst verblasst. An den Hemdtaschen und am Gürtel hingen kleine bunte Bänder, die keinen besonderen Zweck zu erfüllen schienen. Die Hände des Alten waren ebenso faltig und zerfurcht wie das Gesicht, und eine von ihnen hielt eine Pfeife.
»Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen«, erwiderte Anna.
» Ich glaube Ihnen.« Anatoli paffte und blies eine Rauchwolke Richtung Kamin, in dem ein wärmendes Feuer brannte. »Aber die Polizei? Gestern Abend befanden Sie sich in einem Restaurant, in dem es zu einer Schießerei kam, bei der zwei Menschen starben. Irgendwie waren Sie in das Geschehen verwickelt. Sie wurden verhaftet, und als man Sie später zum Flughafen brachte, ergriffen Sie die Flucht.«
»Es tut mir leid, wenn wir Ihnen durch unsere Anwesenheit Unannehmlichkeiten bereiten«, sagte Anna und trank einen Schluck Kaffee.
Sebastian hatte bereits drei Tassen getrunken und zwei
Scheiben von dem dicken, grauen Brot gegessen. Er fühlte sich nicht mehr ganz so erschöpft wie am vergangenen Abend, doch eine unangenehme Unruhe erfüllte ihn, und sie bezog sich auf Anatoli.
Der Alte winkte ab und paffte erneut. »Ich bitte Sie, Signora«, erwiderte er in nicht ganz perfektem Italienisch. »Es ist viele, viele Jahre her, seit ich zum letzten Mal eine schöne Frau zu Gast hatte. Sie wecken in mir den Wunsch, zwanzig Jahre jünger zu sein. Oder sollte ich besser dreißig daraus machen?«
Anna lachte höflich, und Anatoli schmunzelte.
»Wie konnten Sie sich nur von einer solchen Frau trennen?«, fragte der Alte und richtete den Blick seiner grauen, wässrigen Augen auf Sebastian.
»Anna hat Ihnen letzte Nacht davon erzählt, wie?«, entgegnete Sebastian und spürte, wie die Unruhe in ihm stärker wurde. »Wie hat sie hierhergefunden?«
»Es war Glück«, sagte Anna rasch. »Der Schotterweg, der von der Hauptstraße abzweigt, erinnerst du dich? Das Haus mit der brennenden Außenlampe …«
»Sie fragte mich nach dem Weg zu mir«, warf Anatoli ein und schmunzelte.
Sebastian erinnerte sich an die Stimme, die behauptet hatte, er hätte Anna den Weg gezeigt. Hier saß er, in einem alten Haus, das er nicht kannte, einem Mann gegenüber, dem er noch nie begegnet war und der sich doch mit ihnen beiden ganz vertraut unterhielt. Sein Italienisch hatte einen starken russischen Akzent und klang eingerostet, aber Sebastian glaubte, in den Worten Untertöne zu hören, die ihm nicht gefielen. Eine Barriere der Feindseligkeit bildete sich zwischen ihm auf der einen und Anatoli und Anna auf der anderen Seite.
»Don Vincenzo ist tot«, sagte er. »Er hat sich umgebracht.«
Anatoli nickte traurig. »Ihre Frau hat mir auch davon erzählt. Er war ein guter Freund; wir haben viel zusammen erlebt. Möge Gott seiner Seele gnädig sein.«
»Nur seiner?«, fragte Sebastian etwas zu scharf. »Was ist mit den vielen anderen, die gestorben sind?«
Der alte Russe paffte und sah ihn nachdenklich an.
»Vor seinem Tod ließ Don Vincenzo Sebastian eine Nachricht zukommen«, sagte Anna fast entschuldigend. »Er meinte, Sie wüssten mehr und könnten ihm vielleicht helfen.«
Ein leises Miauen veranlasste Sebastian, sich umzudrehen. Ein grauweißer Kater war in der Tür erschienen, sah zu Anatoli und miaute erneut. Der Alte schnalzte mit der Zunge und sagte: »Komm, Tolstoi. Komm her zu mir.«
Der Kater lief auf ihn zu, doch auf halbem Wege zögerte er und sah zu Sebastian auf. Zwei grüne Augen, klar und wach …
Sebastian begriff plötzlich, dass er diesen Kater schon einmal gesehen hatte, während der nächtlichen Wanderung. Seine Perspektive verschob sich, und plötzlich sah er sich selbst, durch Tolstois Augen. Statur
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