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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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und Kleidung stimmten, ebenso das etwas zu lange aschblonde Haar. Aber das Gesicht … Es war jenes Gesicht, das er nachts im Hotel gesehen hatte, im Spiegel des Badezimmers, und es wurde zu einer Fratze.
    Der Kater fauchte, sprang fort und verschwand durch die Tür.
    »Mit Katzen bist du immer gut zurechtgekommen …«, sagte Anna überrascht.
    Sebastian wandte sich wieder dem Tisch zu und stellte fest, dass Anatolis Blick auf ihm ruhte. »Was starren Sie mich so an?«, fuhr er ihn an.

    »Bastian …« Anna beugte sich vor. »Warum bist du so aggressiv?«
    Aggressiv, dachte Sebastian. Die Frau in Benjers Begleitung hatte ihn beim Verhör in Riga nach Anzeichen von gesteigerter Aggressivität gefragt.
    »Er hält mich für verrückt«, platzte es aus ihm heraus. Er wollte die Worte zurückhalten und sich beruhigen, aber es gelang ihm einfach nicht. »Du hast ihm in der vergangenen Nacht alles erzählt, und jetzt hält er mich für irre. Und der verdammte Kater scheint seine Ansicht zu teilen. Er hat mich auch angefaucht, als ich draußen war.«
    »Als Sie draußen waren?«, fragte Anatoli und ließ die Pfeife sinken. »Wann?«
    Sebastian sah ihn an und rang mit sich selbst. In seinem Innern führten Hoffnung und Feindseligkeit einen heftigen Kampf.
    »Ich habe … geträumt«, brachte er zögernd hervor. Don Vincenzo hatte ihm kurz vor seinem Tod mitgeteilt, dass ihm dieser Mann vielleicht helfen konnte, und er brauchte Hilfe. »Ich habe mich selbst im Bett gesehen und bin draußen umhergelaufen.«
    »Warum?«, fragte Anatoli. »Warum sind Sie draußen gewesen?«
    »Ich bin zum Schotterweg gegangen und dort …« Sebastian stockte. Eine Stimme heulte in ihm und verbot ihm, noch mehr zu verraten. Er bewegte Zunge und Lippen, und jede einzelne Silbe kostete ihn Mühe. »Dort habe ich die Hände auf den Boden gedrückt. Ich … Der Kater. Er kam aus dem Gebüsch und fauchte, und dann verschwand er wieder, so wie eben.«
    Er schnitt eine Grimasse und kniff die Augen zu, als jäher
Schmerz hinter seiner Stirn brannte. Und aus dem Feuer kam das Heulen, zornig und wild.
    Sebastian schrie, und irgendwann ließ die Pein nach, vertrieben von zwei Daumen an seinen Schläfen.
    »Ist es jetzt besser?«, fragte Anatoli.
    »Ja«, ächzte Sebastian. »Ja, der Schmerz ist weg. Und die Stimme ebenfalls. Wie …«
    »Entspannen Sie sich«, kam Anatoli der Frage zuvor. »Seien Sie ganz ruhig. Ganz ruhig … Beschreiben Sie mir die Stimme.«
    Angenehme Ruhe breitete sich in Sebastian aus. »Sie ist fremd und doch … meine eigene.«
    »Versuchen Sie, Abstand zu der Stimme zu wahren. Lassen Sie nicht zu, dass sie ganz zu Ihrer eigenen wird.«
    Sebastian hob die Lider und begegnete Annas Blick. Anatoli stand hinter ihm. »Wissen Sie, was es damit auf sich hat?«
    »Lassen Sie die Augen geschlossen und entspannen Sie sich«, sagte Anatoli. »Geben Sie sich der Ruhe hin und lassen Sie sich von ihr tragen.« Einige Sekunden lang massierte er die Schläfen und summte dabei vor sich hin. »Ganz ruhig … Lassen Sie die Augen zu und beschreiben Sie mir, was Sie sehen.«
    »Mit geschlossenen Augen?«
    »Ja.« Anatolis Finger kreisten an den Schläfen.
    »Ich sehe …« Gar nichts, hatte Sebastian sagen wollen, aber das stimmte nicht. Bilder entstanden auf den Innenseiten seiner Lider wie auf einer Leinwand und zeigten ihm …
     
    Ein anderer Hafen erstreckt sich vor Nikolaus, kleiner als der von Genua, aber voller Schiffe, und zwei von ihnen nehmen Hunderte von Kindern auf: schmutzige, von Entbehrungen gezeichnete Jungen und Mädchen, erschöpft nach den langen Märschen und dennoch entschlossen,
ins Heilige Land zu segeln und dort im Zeichen des Kreuzes zu kämpfen.
    »Auch hier teilt sich das Meer nicht für uns«, sagt Hubertus. »Aber diese Schiffe sind bereit, uns aufzunehmen. Komm, Nikolaus.«
    Doch der Junge, der in Köln von Jesus Christus höchstpersönlich einen heiligen Auftrag empfing, bleibt stehen. Der sechs Jahre ältere Hubertus, seit vielen Wochen ein getreuer Weggefährte und Freund, sieht ihn mit einer Mischung aus Kummer und Überraschung an. »Willst du nicht an Bord gehen?«
    Anstrengungen und Mühsal sind selbst an dem großen, starken Hubertus nicht spurlos vorübergegangen. Kräftig gebaut hat er Köln verlassen und sich selbst während der Überquerung der Alpen einen großen Teil seiner Kraft bewahrt. Jetzt ist er hohlwangig, und die Augen, ihr Blick getrübt, liegen tief in den Höhlen. Er ist so schmutzig wie die

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