Äon - Roman
wenigen Jahren zu Ende. Ein neuer Krieg zeichnete sich ab, ein kalter, mit dem Schreckgespenst
der atomaren Katastrophe.« Er sah auf das Pergament. »Und Juri berichtete mir von einer angeblich noch größeren Gefahr. Die Zeit verging, andere Dinge erforderten meine Aufmerksamkeit, und dies erschien mir … sehr weit entfernt.« Er seufzte. »Juri … Er wusste damals seinen Tod nahe, und tatsächlich starb er nur wenige Tage später. Er nahm mir das gleiche Versprechen ab, das er dem aus der Türkei stammenden Burhan gab, der wiederum Isidor verpflichtet gewesen war. Und vor Isidor …«
»Sarki, Theodor, Hellena, Nubsah …«, sagte Anna. »Sie haben mir die Namen genannt.« Sie zögerte kurz. »Warum?«
Vorsichtig entrollte Anatoli das Pergament noch weiter und fand eine Stelle, an der Namen, jeder von ihnen in einer anderen Handschrift, aufgelistet waren. Sebastian beugte sich vor und sah ganz oben ein verschnörkelt geschriebenes »Ml.«, daneben und leicht versetzt ein »H« und ein »E«.
Der alte Russe deutete auf seinen eigenen Namen, der ganz unten stand, nahm dann einen Stift und reichte ihn Anna. »Schreiben Sie Ihren Namen.«
Anna richtete einen verblüfften Blick auf ihn.
»Sie sollen mein Nachfolger sein, denn Sie müssen Ihren Mann nach Budapest bringen, zu Béla. Vielleicht kann er helfen. Mein Wissen hat zu große Lücken.«
»Kommen Sie mit uns.«
»Nein, Anna. Mein Platz ist hier.« Ein Schatten fiel kurz auf Anatolis faltiges Gesicht und verschwand dann wieder. »Es ist besser so. Nehmen Sie das Wissen mit.«
»Aber Sie haben mir kaum etwas gesagt!«
»Ich habe Ihnen alle wichtigen Dinge genannt. Vielleicht weiß Béla mehr. Ich habe ihn nur einmal getroffen, in Prag, vor
dem Fall des Eisernen Vorhangs. Ein sehr kluger Mann. Wenn er nicht weiterhelfen kann …« Anatoli hob und senkte die schmalen Schultern. »Sie sind eine starke Frau, Anna. In Ihnen gibt es Kraft. Weil Sie Ihm vertrauen.« Er bekreuzigte sich. »Und es ist die einzige Möglichkeit für Ihren Mann.«
Anna sah kurz zu Sebastian, nahm den Stift und schrieb ihren Namen aufs Pergament, unter den, der Anatoli Pawel Pawlowitsch lautete.
Sebastian starrte Anna und den Alten an. »Würde mir bitte jemand erklären, was dies alles zu bedeuten hat?«
Anatoli wandte sich ihm zu, mit einem Gesichtsausdruck, der sich kaum deuten ließ. Er griff in die Tasche und holte den Gegenstand hervor, den er zuvor eingesteckt hatte: ein goldenes Medaillon an einer goldenen Kette. »Hier, das ist für Sie.«
»Für mich?« Sebastian nahm das Medaillon überrascht entgegen. Es war rund, durchmaß etwa vier Zentimeter und zeigte in der Mitte die Darstellung eines Mannes, eines Kriegers, der auf einem weißen Pferd saß und ein Schwert hob. Rätselhafte Symbole säumten dieses Bild. Sebastian strich mit der Kuppe des Zeigefingers darüber. »Was sind das für Zeichen?«
»Dies hier bedeutet › Grab ‹ «, sagte Anatoli und zeigte auf ein Symbol. »Außerdem kenne ich noch › Odem ‹ und › Pfad ‹ . Mehr konnte mir Juri leider nicht beibringen. Ich habe keine Ahnung, was es mit den anderen Zeichen auf sich hat.« Und zu Anna: »Medaillon und Pergament gehören zusammen.«
Sebastian drückte auf den Knopf an der Seite des Medaillons, ohne dass etwas geschah.
»Es lässt sich nicht öffnen.«
»Ich weiß«, sagte Anatoli. »Ich habe es im Lauf der Jahre
mehrmals versucht, ohne Erfolg. Wer weiß, was es enthält … Dieses Pergament hier«, fuhr er fort, »stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert, aber es erzählt eine Geschichte, die viel älter ist. Im dritten Jahrhundert nach Christus verschafften sich Grabräuber in Jerusalem Zugang zu einer Gruft, was sie mit dem Tod bezahlten. In dem alten Grab ruhten keine Bestatteten, sondern lebende Geschöpfe, insgesamt sechs. Und es waren keine Menschen. Aufgrund ihrer Schwäche - sie hatten lange in dem Grab gelegen, das eigentlich gar kein Grab war, sondern eine Art Kerker - konnten sie die erste Gelegenheit zur Rückkehr Anfang des fünften Jahrhunderts nicht nutzen. Über Jahrhunderte hinweg trafen sie Vorbereitungen, und 1212, achthundert Jahre später, versuchten sie es erneut. Sie wollten sich in Jerusalem treffen, um in ihre Welt zurückzukehren. Zu jener Zeit waren die Kinderkreuzzüge unterwegs, einer angeführt von einem Franzosen namens Stephan, der andere von Nikolaus, einem Deutschen.«
»Nikolaus …«, wiederholte Sebastian leise, und Erinnerungsbilder stiegen in ihm auf,
Weitere Kostenlose Bücher