Äon - Roman
göttlichen Wesen ‹ zumeist für gefallene Engel. Die Nephilim werden in der Bibel erwähnt. Im ersten Buch Mose heißt es bei Kapitel 6,4: › Zu der Zeit und auch später noch, als die Gottessöhne zu den Töchtern der Menschen eingingen und sie ihnen Kinder gebaren, wurden daraus die Riesen auf Erden. Das sind die Helden der Vorzeit, die hochberühmten. ‹ «
Anatoli deutete auf das Pergament in Annas Hand. »Darin heißt es, dass alles wahr ist. Abgesehen davon, dass es keine Götter waren, sondern … Wesen mit besonderen Fähigkeiten.«
Sebastian lachte, aber es klang ein wenig gekünstelt und fast hysterisch. Sie befanden sich jetzt wieder in dem Zimmer, in dem sie gefrühstückt hatten, und Anatoli eilte zum kleinen Fenster und schaute sichtlich nervös hinaus. »Etwa Außerirdische oder etwas in der Art?«
Der alte Russe drehte sich um. »Vor langer, langer Zeit gab es nicht nur Menschen auf der Erde, Herr Vogler«, sagte er ernst. »Unsere Vorfahren teilten diese Welt mit anderen Lebensformen, die ebenfalls intelligent waren. Gilgamesch und
andere wie er trugen etwas von ihnen in sich. Die Sechs, die im dritten Jahrhundert von Grabräubern aus ihrem Kerker befreit wurden … Sie zählen zu den Nephilim, aber nicht zu jenen, denen der König von Uruk seine übermenschlichen Kräfte verdankte. Licht und Dunkel, Herr Vogler.«
»Und ich?«, fragte Sebastian. »Was …« Er unterbrach sich.
»Ja, Herr Vogler«, sagte Anatoli. »Ich befürchte, dass etwas von einem Nephilim in Ihnen stecken könnte.«
Sebastian starrte ihn groß an. »Das ist doch Blödsinn!«, platzte es aus ihm heraus. »Esoterischer Unfug!«
Anatoli schien die Worte gar nicht zu hören. »Ihr müsst jetzt gehen«, wandte er sich an Anna. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und ich möchte mich vorbereiten.«
»Kommen Sie mit uns«, sagte Anna, und sie legte einen Nachdruck in ihre Worte, der Sebastian verblüffte.
»Sie können uns jetzt doch nicht einfach so fortschicken!« In Sebastian herrschte Chaos, und er starrte den Alten fassungslos an. »Ich habe mindestens hundert Fragen, die ich Ihnen stellen möchte …«
Anatoli achtete nicht auf die Worte. »Nehmt den Wagen, mit dem ihr gekommen seid. Aber fahrt nicht zu lange damit, denn bestimmt hält man nach ihm Ausschau. Und damit meine ich nicht nur die Polizei.«
»Ich verstehe«, sagte Anna.
»Aber ich verstehe nicht !«, sagte Sebastian eindringlich. »All dieses Gerede von gefallenen Engeln und übermenschlichen Wesen …«
»Komm, Bastian.« Anna ergriff ihn am Arm und wollte ihn mit sich ziehen, aber Sebastian rührte sich nicht von der Stelle.
»Nein! Ich will endlich wissen, was mit mir los ist. Dieser
Mann weiß mehr, als er mir gesagt hat, und ich will alles von ihm hören!«
»Ja, ich weiß mehr, als ich Ihnen gesagt habe«, erwiderte Anatoli und öffnete die Tür. Kalter Wind wehte von draußen herein. »Aber was ich weiß, sind nur Bruchstücke eines Wissens, das einst viel größer war. Sie haben das Medaillon. Anna hat die Pergamentrolle. Bringen Sie beides zu Béla nach Budapest und hoffen Sie, dass er Ihnen helfen kann.«
»Aber …«
»Komm, Bastian.« Anna zog ihn durch die offene Tür nach draußen. Anatoli holte die wenigen Sachen, die sie im Bauernhaus zurückgelassen hatten, und brachte sie zum Wagen in der Scheune. Anna öffnete die Beifahrertür, drückte Sebastian auf den Sitz, eilte dann um die Limousine herum und setzte sich rasch ans Steuer.
»Noch können Sie es sich anders überlegen«, sagte sie durchs offene Seitenfenster zu Anatoli.
Der Russe schüttelte den Kopf. »Hüten Sie die Schriftrolle gut. Vielleicht kann Béla mehr entziffern als ich.«
Anna zögerte kurz. »Viel Glück.«
Anatoli winkte, drehte sich um und kehrte zum Bauernhaus zurück.
Anna startete den Motor.
»Warum?«, fragte Sebastian aufgebracht. »Warum plötzlich die Eile? Gestern Nacht hattet ihr beide jede Menge Zeit.«
Anna setzte zurück und steuerte den Wagen dann über die schlammige Zufahrt zum Schotterweg.
»Warum hat er mir keine Gelegenheit gegeben, mehr zu erfahren?«, fuhr Sebastian zornig fort. »Warum schickt er uns weg, anstatt meine Fragen zu beantworten?«
»Weil er glaubt, dass bald jemand kommt«, sagte Anna. »Und weil er sich darauf vorbereiten will.«
»Auf einen Besuch?«
»Nein. Auf einen Kampf.«
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Hamburg
E ine weiträumige Absperrung umgab die Klinik und den Park. Fast zweihundert Polizisten und Angehörige des
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