Äon - Roman
zeigten ihm Enttäuschung, Leid und Tod.
»Als meine Finger Ihre Schläfen berührten … Sie haben von ihm geträumt, nicht wahr?«, fragte Anatoli. »Mit offenen Augen … Und nicht zum ersten Mal, wie Anna mir sagte.«
»Er war in Rom, um vom Papst Unterstützung zu erhalten, aber Innozenz III. empfing ihn nicht einmal. Er zog weiter nach Brindisi …«
»Und unterwegs löste sich sein Kreuzzug auf.« Anatoli beugte sich übers Pergament und deutete auf einige Schriftzeichen, die kaum mehr als solche zu erkennen waren. »Die Kirche versagte den Kinderkreuzzügen die Unterstützung, denn
sie sollten benutzt werden …« Er sah zu Sebastian auf. »Von den Sechs.«
»Wieso erinnere ich mich daran?«, fragte Sebastian. »Und die Erinnerungen sind so deutlich. Als hätte ich den Kreuzzug angeführt. Als wäre ich in Genua, Rom und Brindisi gewesen …«
»Als Raffaele Sie in Drisiano geheilt hat … Er nahm Ihnen den Gehirntumor, und dafür gab er Ihnen etwas anderes«, sagte Anatoli. Er sprach ruhig und langsam, und ein besonderer Ernst lag in seiner Stimme. »Vergleichen Sie es mit einem Samenkorn, das im Frühjahr in den Boden gelegt wird und aus dem während der nächsten Wochen etwas wächst. Bei Ihnen erfolgt das Wachstum sehr schnell. Viel schneller als bei den anderen.«
»Bei den anderen?«
Anatoli machte eine Geste, die dem Haus und dem Bauernhof galt, seiner kleinen Welt. »Ich bedauere, dass ich erst jetzt davon erfahren habe. Seit fast zehn Jahren lebe ich hier in Abgeschiedenheit, ohne zu wissen, was dort draußen geschieht. Ich meine all die Menschen in Deutschland und anderen Ländern, die von einem Augenblick zum anderen Schreckliches tun. All jene Männer und Frauen, die wie Sie in Drisiano waren und dort etwas von Raffaele empfingen. Etwas, das sie auf grässliche Weise veränderte.«
Sebastian sprach einen Gedanken aus, der ihn schon seit einer ganzen Weile beschäftigte. »Was hat es mit Raffaele auf sich? Steckt der Teufel in ihm? Hat er mir und den anderen etwas Dämonisches eingepflanzt?«
»Du glaubst nicht an Gott«, sagte Anna. »Du leugnest die gute Kraft, räumst aber die Existenz der bösen ein?«
»Derzeit habe ich keine Lust auf irgendwelche rhetorischen Spitzfindigkeiten«, erwiderte Sebastian.
»In der Frage Ihrer Frau steckt mehr Bedeutung, als Sie ahnen, Herr Vogler«, sagte Anatoli. »Gewisse Dinge gehören zusammen. Tag und Nacht. Licht und Dunkelheit. Gut und Böse. Eine Balance ist nötig, ein Ausgleich. Aber andere Dinge bleiben besser getrennt.« Bei den letzten Worten huschte ein Schatten über sein Gesicht. »Wie ich von Anna weiß, hat sich mein alter Freund Vincenzo jahrelang um Raffaele gekümmert. Er mag in seinem Leben oft gezweifelt haben, aber ich bin sicher, er hätte die Präsenz des Teufels bemerkt. Und Sie sind nicht von einem Dämon besessen, Herr Vogler.«
»Was ist es dann?«
»Es sind erneut fast achthundert Jahre vergangen«, sagte Anatoli. »Damals gelang es den Sechs nicht rechtzeitig, sich in Jerusalem zu treffen. Ich fürchte, jetzt ist es wieder so weit. Sie bereiten sich auf eine neue Zusammenkunft vor, und was Raffaele in Drisiano gemacht hat … die Aussaat von Keimen, wenn Sie so wollen … Es gehört dazu. Sie gehören dazu, Herr Vogler. Ich nehme an, dass Sie etwas in sich tragen, das die Sechs brauchen. Einen Teil ihrer Essenz. Es breitet sich in Ihnen aus und versucht, Besitz von Ihnen zu ergreifen. Sie müssen Béla in Budapest erreichen, bevor das geschieht.«
Der alte Russe nahm einen Zettel, kritzelte etwas darauf und gab ihn Anna. »Das ist seine Adresse. Die letzte, die ich kenne. Und jetzt …« Anatoli rollte das alte Pergament zusammen und reichte es ebenfalls Anna. »Es wird Zeit, dass ihr aufbrecht. Höchste Zeit.«
»Wer sind die Sechs?«, fragte Sebastian, als sie den Raum mit den vielen Büchern verließen. »Keine Menschen, haben Sie
gesagt. Und keine Dämonen«, fügte er hinzu. Aus irgendeinem Grund erleichterte ihn das.
»Kennen Sie die Geschichte von Gilgamesch?«
»Ein sumerischer König, der ungefähr 2600 vor Christus gelebt haben soll.«
»Ein Mann, der angeblich zu einem Drittel Mensch und zwei Dritteln Gott war. Sagt Ihnen die Bezeichnung › Nephilim ‹ etwas?«
Sebastian überlegte noch, als Anna sagte: »Es ist ein Wort aus dem Hebräischen. In der altisraelischen Mythologie waren die Nephilim riesenhafte Mischwesen, gezeugt von göttlichen Wesen und Menschenfrauen. Später hielt man die ›
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