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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Fällen gab es Gardinen.
    »Wohnt hier überhaupt noch jemand?«, fragte Sebastian mit brüchiger Stimme.
    Anna wandte sich noch einmal an den Fahrer. »Nummer sechzehn?«
    Er zeigte zur rechten Seite.
    Sebastian und Anna gingen über den Bürgersteig. Sie hatten
das rostige Tor passiert und näherten sich der offen stehenden Eingangstür, als hinter ihnen der Taxifahrer Gas gab und losfuhr.
    Anna machte zwei Schritte in Richtung Straße und winkte hilflos. »Die Reisetasche liegt auf dem Rücksitz.«
    »Was ist mit der Schriftrolle?«, fragte Sebastian erschrocken.
    Anna klopfte auf ihre Handtasche. »Hier drin.«
    »Ich dachte schon …« Er unterbrach sich, griff in die Hosentasche und berührte das Medaillon. Dann sah er an der Fassade des Gebäudes hoch, von der hier und dort der Putz bröckelte. Anna trat zu ihm und schaute noch einmal auf den Zettel. »Die Adresse stimmt tatsächlich. Erster Stock.«
    Sie betraten einen Flur mit bunten Kritzeleien an den Wänden. Die Briefkästen waren leer und zerkratzt; einige hingen schief an den Halterungen. Eine schmutzige Treppe führte nach oben.
    Im ersten Stock erwarteten sie zwei Türen, beide ohne Namensschilder. Sebastian drückte den Klingelknopf der einen, Anna den der anderen, aber es blieb alles still. Als Sebastian den Lichtschalter betätigte, klickte es nur.
    »Kein Strom«, sagte er. »Hier wohnt niemand.«
    Eine Stimme erklang hinter ihnen. Sie drehten sich um und sahen eine zerlumpte Gestalt auf der Treppe. Weiter oben auf dem Treppenabsatz stand eine Flasche Wein neben einer Schachtel, die offenbar Kekse enthielt.
    Der Stadtstreicher war jung, nur wenig älter als der Taxifahrer, der sie im Stich gelassen hatte.
    »Wir sprechen kein Ungarisch«, sagte Anna auf Englisch und fügte hinzu: »Wir suchen einen gewissen Béla, der hier wohnen soll.«

    Der junge Mann in der zerlumpten Kleidung wankte die Treppe herunter und an ihnen vorbei. Er schloss beide Hände um den Knauf einer der beiden Türen und drückte dagegen. Es knarrte und knirschte, dann sprang die Tür auf.
    »Er hat hier gewohnt«, erwiderte der Stadtstreicher auf Englisch.
    Sebastian und Anna blickten in eine leere Wohnung.

43
    Paris
    D ie Straßen waren noch nass vom Regen der vergangenen Nacht, als sie das Wohnhaus verließen und durch Paris wanderten, eine »wirklich große Stadt«, wie Yvonne sie genannt hatte. Raffaele sah sich immer wieder um, und während er noch staunte, bemerkte er erste Dinge, die ihm vertraut erschienen: ein Straßenzug hier, ein Platz dort, manche Gebäude, und natürlich der Fluss, die Seine. Er begriff, dass er tatsächlich schon einmal hier gewesen war, aber nicht als Junge aus Kalabrien, sondern …
     
    Ein Mann, nicht mehr jung und noch nicht alt, geht mit langen Schritten durch Gassen, in denen Unrat liegt. Dies ist eine Welt der Armut und des Hungers, grau und farblos unter einem grauen, farblosen Himmel. Hier und dort brennen Feuer, an denen sich in Lumpen gekleidete Menschen wärmen. Nach dem Kalender ist es Juli, doch der Winter entlässt in diesem Jahr das Land nicht aus seinem Griff und hält die Sonne fern; die Felder liegen brach. Viele Hungernde glauben, Opfer göttlichen Zorns zu sein. Sie wissen nicht, dass es die Asche eines Vulkans ist, die ihnen den Sommer gestohlen hat. Der Mann setzt seinen Weg fort, und am Rand des Elendsviertels, nicht weit von einem Schacht entfernt, der zu den alten Steinbrüchen unter der Stadt führt, trifft er eine Frau. Sie lächelt, als
sie ihn sieht, und ihre Stimme ist wie das Flüstern des Winds. »Dies ist der Ort, aber noch nicht die Zeit«, sagt er.
    »Du hast recht«, entfuhr es Raffaele in der Sprache der Menschen. »Ich bin schon einmal hier gewesen. Ich …«
    Yvonne - der Klang des Namens gefiel ihm, obwohl es nicht ihr richtiger Name war - legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es ist bald so weit, für uns und auch für dich. Deine Erinnerungen werden stärker. Es dauert nicht mehr lange, bis du ganz zu uns gehörst.«
    Bei den letzten Worten wechselte sie einen Blick mit Granville und dem anderen Mann, dem sie am vergangenen Abend begegnet waren und der sie bei sich untergebracht hatte. Er hieß Dario Deveny und sprach ebenfalls mit der anderen Stimme.
    Raffaele hörte die Worte, sah den Blick und wusste, dass den Worten etwas fehlte; es war nur die halbe Wahrheit.
    Als sie den Weg fortsetzten, dachte er darüber nach und staunte immer weniger über die Stadt. Er verstand nun diese Stimme, die wie

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