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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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du es tun musst. Ich halte so lange die Puppe für dich.«

    Sie ist völlig übergeschnappt, dachte Singerer. »Lasst uns gehen«, sagte er, wandte sich von dem Toten ab und wollte José in die Dunkelheit des Tunnels folgen.
    Etwas packte ihn plötzlich an der Kehle.
    Es fühlte sich wie eine Hand an oder wie zwei Hände, die sich um seinen Hals schlossen und ihm die Luft abdrückten - doch es war nichts da! Niemand stand vor ihm. Mindestens zwei Meter trennten ihn von Mary und fast sechs von José.
    Die unsichtbaren Hände drückten fester zu, und ein dumpfes Grollen kam aus dem Nichts.
    Mary beobachtete ihn ernst und mit einer gewissen Genugtuung.
    Singerer begriff, dass es um alles oder nichts ging. Die größte Gefahr war aus einer völlig unerwarteten Richtung gekommen, und er sah nur eine Möglichkeit, sein Leben zu retten.
    Er richtete die Pistole auf das Mädchen, und sein Finger krümmte sich um den Abzug. Eine Hand löste sich von seinem Hals, und die Waffe ruckte genau in dem Augenblick zur Seite, als der Schuss fiel. Die Kugel jagte an Mary vorbei, traf die gegenüberliegende Tunnelwand und schwirrte als Querschläger davon.
    Schritte entfernten sich - José lief fort.
    Etwas entwand Singerer die Pistole, und er beobachtete fassungslos, wie sie sich in der leeren Luft drehte, bis die Mündung auf ihn zeigte. Der Abzug bewegte sich von ganz allein, und es machte Klick. Leer geschossen.
    Die Waffe verharrte zwei oder drei Sekunden in der Luft, fiel dann zu Boden und rutschte ins Abwasser. Nur einen Augenblick später traf ein wuchtiger Schlag Singerers Nase.
    Er fiel, und Blut strömte ihm übers Gesicht. Durch einen
Schleier der Benommenheit sah er Marys blasse Miene. Sie trat etwas näher und blickte auf ihn herab. »Mörder müssen bestraft werden«, sagte sie.
    Singerer wollte aufstehen, aber sein unsichtbarer Gegner drückte ihn zu Boden und legte ihm erneut die Hände um den Hals. Befreiungsversuche nützten nichts, denn der Gegner hatte keine Substanz.
    »Mary«, brachte er hervor, während sich die Dunkelheit um ihn herum verdichtete.
    »Elmer sagt, es ist gleich vorbei.«
    Singerer ächzte ein letztes Mal, bevor ihn die Finsternis verschlang.

46
    Hannover
    I ch bin zu spät gekommen, Heiliger Vater«, sagte Ignazio Giorgesi. »Anatoli Pawel Pawlowitsch war schon seit einigen Stunden tot, als ich ihn fand.«
    »Das hat man mir mitgeteilt«, kam die Stimme des Papstes aus dem Telefon.
    Ignazio merkte, dass die linke Hand, die den Telefonhörer hielt, ein wenig zitterte. Eine lange Nacht lag hinter ihm, und er hatte kaum geschlafen. »Damit bleibt nur noch einer«, sagte er und ließ erneut den Blick durch das Zimmer schweifen. Es sah aus wie ein ganz normales Büro: ein Schreibtisch mit PC, mehrere Stühle, eine große Topfpflanze in der Ecke, ein Fenster mit Blick auf die Innenstadt von Hannover - der Tag war grau, was Ignazios Stimmung entsprach. Natürlich konnte er keine Abhörvorrichtungen entdecken, aber er zweifelte nicht einen Moment daran, dass sie existierten. Man erlaubte ihm bestimmt nicht, mit dem Papst zu sprechen, ohne dass jemand mithörte. »Aber man lässt mich nicht weg. Man hält mich hier fest.«
    »Ich fürchte, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie, Ignazio«, sagte der Papst am anderen Ende der Leitung. »Béla ist ebenfalls tot. Er starb heute Morgen in Budapest. Soweit wir wissen, wurde er von Simon Krystek erschossen.«

    »Oh.« Ignazios Kummer wuchs.
    »Die Sapienti existieren nicht mehr«, fügte der Papst hinzu. »Das alte Wissen ist ausgelöscht. Es gibt keine Hilfe; wir sind auf uns allein gestellt.«
    »Heiliger Vater, dieses Telefon …«
    »Ich weiß, Ignazio.«
    Sie schwiegen einige Sekunden, und Ignazio hörte nur das vom Doppelglasfenster gedämpfte Brummen des Verkehrs.
    »Die Leute hier …«, sagte er schließlich. »Sie möchten Auskunft von mir. Sie bedauern, dass der Vatikan in dieser Angelegenheit bisher … Zurückhaltung geübt hat.«
    »Ich habe Dutzende von Anfragen bekommen«, antwortete der Papst. »Wir versuchen, auf sie alle einzugehen, nach unseren besten Möglichkeiten.«
    Ignazio übersetzte: Wir versuchen zu helfen, ohne die Wahrheit preiszugeben.
    »Ich verstehe.«
    »Ich bedauere, dass Sie nicht hier sind, lieber Ignazio. Ihren klugen Rat habe ich immer sehr zu schätzen gewusst.« Es klang müde.
    Ignazio Giorgesi dachte an den Vatikan, an Sicherheit versprechende dicke Mauern, den Frieden der Gärten und die Ruhe der Bibliotheken.

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