Äon - Roman
ein oder zwei Sekunden, wie sich der Schatten der Hoffnungslosigkeit auf seine Seele legte. Diesmal schwiegen Tanner und die anderen; sie warteten geduldig.
»Der erste Versuch fand im fünften Jahrhundert statt. Sie wollten sich treffen, beim Herzschlag der Welt, aber sie waren noch zu schwach. Fast achthundert Jahre später, vor dem nächsten Herzschlag, verabredeten sie sich in Jerusalem. Im Jahr 1212 riefen sie den Kreuzzug der Kinder ins Leben, um unerkannt die Heilige Stadt zu erreichen und gleichzeitig von genug Leid und Schmerz umgeben zu sein, als Quelle ihrer Kraft.« Ignazio zögerte kurz und fragte sich, ob er auf die Rolle von Papst Innozenz III. und sein Treffen mit Al-Kamil Muhammad al-Malik beim kläglichen Ende des Kinderkreuzzugs hinweisen sollte. Er entschied sich dagegen. »Sie scheiterten erneut und begannen mit Vorbereitungen für die nächste Gelegenheit.«
»Die jetzt gekommen ist, nehme ich an«, warf Benjer ein.
»Ja. Erneut sind fast achthundert Jahre vergangen, und diesmal sind die Voraussetzungen ideal für die Nephilim. Es gibt Milliarden von Menschen und jede Menge Leid, aus der sie Kraft schöpfen können.«
»Kraft wofür?«, fragte Benjer.
»Ferdinand …«, sagte Tanner in einem mahnenden Ton.
»Für sich selbst, um zu wachsen und zu voller Reife zurückzukehren. Und um die Barriere niederzureißen, die uns von der anderen Welt trennt.«
Kurze Stille folgte diesen Worten, und jemand murmelte: »Das klingt mir alles zu abgehoben. Zu wenig konkret.«
»Ich versichere Ihnen, dass es dieser Sache nicht an konkreten Aspekten mangelt«, sagte Ignazio ernst. »Die Welt, wie wir sie kennen … Sie ist nur Teil einer Welt, die einst viel größer war, und vor den Menschen gab es andere intelligente Wesen in ihr.« All die Dinge, die er gelesen und am Computerschirm gesichtet hatte … Es strömte auf ihn ein, in vielen Worten und Bildern, und Ignazio musste eine Auswahl treffen. »Wesen, die wir heute teilweise als monströs bezeichnen würden. Viele Völker auf der Erde haben sich Urerinnerungen daran bewahrt.«
»Ich nehme an, hier kommen die Dämonen ins Spiel«, sagte Tanner.
»Ja. Zumindest teilweise. Nennen wir sie › dämonische Geschöpfe ‹ . Die ersten intelligenten Bewohner dieses Planeten. Als sich die Menschen entwickelten, waren sie zunächst nur eine Kuriosität, aber dann kam es zu einer Rivalität, die immer mehr eskalierte, und schließlich wurde aus dem Wettstreit Kampf. Die Nephilim waren die Herrscher jener anderen Völker, deren Wurzeln weiter in der Zeit zurückreichen als die der Menschen. Sie galten als Halbgötter, hervorgegangen aus der Verbindung mit überirdischen Geschöpfen …«
Der Mann, von dem zuvor der skeptische Einwand gekommen war, ächzte laut. »Ich bitte Sie, Tanner. Warum vergeuden
wir unsere Zeit damit, uns diesen pseudoreligiösen Firlefanz anzuhören?«
»Wie heißt es vom Vogel Strauß?«, fragte Ignazio. »Wenn er vor etwas Angst hat, steckt er den Kopf in den Sand und glaubt sich dadurch in Sicherheit. Er sieht die Gefahr nicht und denkt, dass sie ihn ebenfalls nicht sieht. Aber da irrt er, wie wir wissen. Die Dinge außerhalb seiner Wahrnehmung existieren sehr wohl. Und ebenso gibt es Dinge, die wir nicht sehen oder hören. Kracht es im Wald, wenn ein Baum umstürzt und niemand da ist, der ihn beobachtet?«
»Sie sprechen von objektiver und subjektiver Realität?«, wollte Tanner wissen.
»Ich spreche von Dingen, die außerhalb von uns existieren«, betonte Ignazio. »Ob sie uns gefallen oder nicht. Ob sie in unser Weltbild passen oder nicht. Die Welt ist viel größer als der kleine Ausschnitt, den uns unsere Wahrnehmung zeigt. In den Urerinnerungen der Völker, die in Legenden und Mythen Ausdruck finden, ist oft von Ungeheuern die Rede, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet sind. Sie beziehen sich auf die Geschöpfe, mit denen der Mensch einst die Welt teilte. Ähnliches gilt für die Aufteilung der Welten.«
Ignazios Blick huschte über die Gesichter der Zuhörer. »In den Überlieferungen der alten sibirischen Völker gibt es drei Sphären: Unten wohnen die bösen Geister, in der Mitte der Mensch, und oben ist Platz für die Sonne und die guten Geister. Die Welt ist dreigeteilt, wie auch die der Christen. Wir unterteilen sie in Himmel, Hölle und die Erde. Den Himmel hat uns der Sündenfall genommen, und die Vertreibung aus dem Paradies brachte uns in eine Welt, die nicht nur aus der Erde bestand, sondern auch
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