Äon - Roman
Er glaubte, in den Worten des Papstes eine Einladung zur Rückkehr zu hören, und er griff nach dieser Chance wie ein Verhungernder nach einem Stück schimmeligem Brot.
»Wenn Sie Ihren Einfluss geltend machen, Heiliger Vater …«, sagte er hastig. »Vielleicht könnte ich noch heute Abend in Rom sein.«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er begriff, dass
er für einige Sekunden der Versuchung erlegen war, nur an sich selbst zu denken. Und er hatte sich einer Illusion hingegeben - ein doppelter Fehler. Jener Vatikan, den er kannte und liebte, im dem er seit vielen Jahren zu Hause war … Er würde bald nicht mehr existieren. Nicht mehr in dieser Form. Und das galt auch für Rom und die ganze Welt.
»Ignazio …«
»Ja, ich weiß, Heiliger Vater. Die Welt steht an einem Scheideweg«, sagte er, ohne zu wissen, dass ein Araber namens Al-Kamil Muhammad al-Malik im August des Jahres 1212 ähnliche Worte an Papst Innozenz III. gerichtet hatte. »Nichts wird mehr so sein, wie es bisher war.«
»Dies ist Äon, wie es in dem Brief hieß«, sagte der Papst. »Das Ende eines Weltalters, und der Beginn eines neuen.« Er legte eine kurze Pause ein und fügte dann hinzu: »Wir müssen versuchen, das Schlimmste zu verhüten. Darum bitte ich Sie. Helfen Sie.«
»Natürlich, Heiliger Vater«, erwiderte Ignazio sofort. »Aber was …« Er erinnerte sich daran, dass ihn vermutlich nicht nur der Papst hörte. » Wie soll ich helfen?«
»Das überlasse ich Ihrem Ermessen, Ignazio. Ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann.«
Die letzten Worte rückten alles in den richtigen Zusammenhang, dachte Ignazio. Was wahr gewesen ist, muss wahr bleiben . An diesem Grundsatz änderte sich nichts, und dafür war er dankbar. Die Welt musste auch so schon genug ertragen.
»Gott sei mit Ihnen«, sagte der Papst und unterbrach die Verbindung.
»Und mit Ihnen, Heiliger Vater«, antwortete Ignazio leise, obwohl der Papst gar nicht mehr zuhörte. Er legte auf, sah
einige Sekunden lang aus dem Fenster, drehte sich dann um und verließ das Zimmer. Die draußen wartenden Leute, unter ihnen Benjer, sahen ihn fragend an.
Ignazio gab sich einen Ruck. »Was möchten Sie wissen?«
»Na endlich«, sagte Benjer. »Kommen Sie, Signor Giorgesi, ich bringe Sie zu Tanner.«
»Was hat der Vatikan bisher verschwiegen?«, fragte Ernst Tanner.
Ignazio musterte den Mann, der offenbar keine Zeit verlieren wollte und sofort zur Sache kam: etwa sechzig, das Gesicht ernst, das spärliche Haar grauweiß, die Augen blaugrau, ihr Blick intensiv. Ein intelligenter Mann, zweifellos, und einer, auf dem große Verantwortung lastete.
Bevor Ignazio antworten konnte, öffnete sich die Tür, und eine Assistentin kam herein. »Entschuldigen Sie, aber Sie wollten über die Sache in Hamburg auf dem Laufenden gehalten werden …«
»Ja«, sagte Tanner.
»Das Feuer in der Klinik ist inzwischen unter Kontrolle gebracht«, sagte die Frau. Sie sah Ignazio kurz an, und ihr Blick kehrte sofort zu Tanner zurück. »Eine zweite Gruppe hat damit begonnen, die Gebäude zu durchsuchen. Zahlreiche Kontaminierte waren in einer Abteilung nicht weit vom Brandherd entfernt eingesperrt. Viele von ihnen starben.«
»Was ist mit Singerer?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nichts. Die Suche geht weiter, aber bisher fehlt jede Spur von ihm.«
Tanner nickte, und die Frau ging.
Durch die breite Fensterfront sah Ignazio, wie sie über eine
der Treppen in den großen runden Raum weiter unten zurückkehrte, der etwas Futuristisches hatte. Die Wände bestanden fast ausschließlich aus großen Bildschirmen, jeder von ihnen in verschiedene Darstellungsfenster unterteilt, die Bilder der Gewalt und Zerstörung zeigten: abgestürzte Flugzeuge, die ineinander verkeilten Waggons von kollidierten Zügen, nahe an Küsten auf Grund gelaufene Schiffe, brennende Wohnhäuser und Industrieanlagen, schreiende Menschen, Tote. An funktionellen Schreibtischen vor diesen Bildschirmwänden saßen Dutzende von Männern und Frauen, die meisten von ihnen in mittleren Jahren; ihre Blicke wechselten zwischen den großen Schirmen und den kleineren LCD-Monitoren der PCs vor ihnen. Dies war das Koordinierungszentrum für Norddeutschland, wusste Ignazio inzwischen, und Ernst Tanner leitete den hiesigen Krisenstab.
Einige andere Personen leisteten dem Koordinierungsleiter in seinem Büro Gesellschaft, unter ihnen Ferdinand Benjer und seine Mitarbeiterin Henriette. Hinzu kam jemand, der von einem mehr als vierzig
Weitere Kostenlose Bücher