Äon - Roman
aus der Hölle, wenn Sie so wollen. Die anderen
großen und kleineren Regionen kennen ähnliche Strukturen. Einst teilten wir diesen Planeten mit Geschöpfen, die wir heute der Hölle zuordnen, doch schließlich, vor Jahrtausenden, gelang es, das abzutrennen, was wir heute als unsere Welt wahrnehmen. Dadurch gewann der Mensch Freiheit und erlebte den Aufstieg, der zu unserer modernen Zivilisation geführt hat.«
Wieder machte Ignazio eine kurze Pause und legte sich die nächsten Worte zurecht. »Das Paradies bleibt Gottes Domäne, und wir wissen nicht, wie weit es entfernt ist. Aber die anderen beiden Teile der größeren Welt nähern sich immer wieder einander.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Tanner. »Alle achthundert Jahre?«
»Das ist der › Herzschlag ‹ der Welt«, fuhr Ignazio fort. »Einmal in knapp achthundert Jahren kommen sich die beiden damals getrennten Sphären so nahe, dass sie sich an bestimmten Stellen berühren. Wenn niemand aktiv wird, bleiben sie getrennt; von allein kann keine neue Verbindung entstehen. Aber die Sechs haben sich vorbereitet.« Mit einem kurzen Blick auf Benjer fügte er hinzu: »Sie sind nach Frankreich unterwegs, wie ich hörte. Vermutlich haben sie dort eine Stelle gefunden, wo sie eine neue Verbindung zwischen den Welten schaffen können. Sie wollen zurück in ihre Domäne, und mit der Kraft, die ihre Saat ihnen zur Verfügung stellt, könnte ihnen das auch gelingen.«
Für einige Sekunden herrschte Stille.
»Wenn sie zurückwollen …«, sagte einer der Männer, die Ignazio nicht kannte. »Warum versuchen wir, sie ausfindig zu machen? Warum warten wir nicht einfach, bis sie den Übergang geschaffen und unsere Welt verlassen haben?«
»Sie verstehen nicht«, erwiderte Ignazio langsam. »Wenn es den Sechs gelingt, den Übergang zu schaffen, ist diese Welt wieder mit der anderen verbunden. Auf Dauer. Und vermutlich nicht nur an der Stelle, die die Nephilim ausgewählt haben, sondern auch an anderen, wo die trennende Membran besonders dünn ist. Bewohner der einen Seite können dann zur anderen wechseln, in großer Zahl.«
Der Mann, der zuvor von Firlefanz gesprochen hatte, lachte unsicher. »Wollen Sie damit sagen, im schlimmsten Fall droht uns eine Invasion von … Teufeln?«
»Es kommt darauf an, was Sie unter › Teufeln ‹ verstehen«, sagte Ignazio ernst. »In der anderen Hälfte - beziehungsweise in dem anderen Drittel - der Welt leben Geschöpfe, die uns weit überlegen sind. Denken Sie an all die Fähigkeiten, die Legenden und Mythen Dämonen und anderen Wesen der Finsternis zusprechen. Sie können geistig Besitz von uns ergreifen oder uns auf subtilere Weise manipulieren. Körperlich sind sie schneller, stärker und ausdauernder als wir. Sie waren vor uns auf der Erde und glauben, ein größeres Recht auf sie zu haben. Zweifellos würden sie die Gelegenheit nutzen, wieder zu unseren Herren zu werden, so wie damals, vor der Trennung.« Ignazio sah die Skepsis im Gesicht des Mannes und fügte hinzu: »Denken Sie an das, was Sie mit dem Begriff › Hölle ‹ assoziieren. Und nun stellen Sie sich vor, was auf der Erde geschieht, wenn die Hölle ihre Pforten öffnet.«
Wieder folgte Stille, und diesmal war sie von Nachdenklichkeit geprägt. Ignazios Blick glitt über betroffene Gesichter.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind diese sechs Nephilim seit der Öffnung ihres Grabes oder Kerkers im dritten
Jahrhundert unter uns«, sagte Benjers Mitarbeiterin Henriette. »Haben Sie schon früher eine Saat ausgebracht?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Ignazio. »Es ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich. Aber wie ich schon sagte: Die Welt war damals eine andere. In unserem Zeitalter, auf der dicht bevölkerten Erde, findet die Saat einen sehr fruchtbaren Boden.«
»Haben Sie uns sonst noch etwas zu sagen?«, fragte Tanner, als Ignazio schwieg. »Gibt es etwas, das wir noch nicht wissen?«
Du sollst nicht lügen, dachte Ignazio. Aber in diesem besonderen Fall fühlte er sich Gottes Geboten auf eine andere Art verpflichtet. »Ich habe Ihnen alles Wichtige mitgeteilt.«
»Sind Sie sicher?« Tanner öffnete eine vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Mappe und sah kurz hinein. »Warum sind Sie in Lettland gewesen, Signor Giorgesi? Was ist mit Simon Krystek und Sebastian Vogler? Weshalb sind Sie von Riga nach Jugla gefahren, zu einem gewissen Anatoli Pawel Pawlowitsch? Soweit wir wissen, war Pawlowitsch mit Don Vincenzo befreundet, dem Priester,
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