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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Wind kam ins Zimmer und bauschte die Vorhänge, aber Anna war nicht aufgestanden, um die Tür zu schließen. Der Schweißfilm auf Beinen und Armen war verschwunden, doch ihre Stirn glänzte noch immer feucht. Seltsam, wie genau er diese Details wahrnahm. Wie durch eine Lupe gesehen.
    »Es … ist grau«, sagte er, und irgendwie schien damit genau das zum Ausdruck zu kommen, was er wirklich dachte und fühlte: Es war grau.
    Grau wie draußen Himmel und See.
    Grau wie hier drinnen das Messer.
    Es befand sich plötzlich an Annas Kehle - sie saß nicht mehr, sondern lag auf dem Bett - und schuf mit seinem Druck eine dünne rote Linie.
    »Bastian …«, brachte Anna hervor. Ihre Augen waren noch größer als vorher, schreckgeweitet, und sie wagte nicht, sich zu wehren, aus Furcht davor, dass die Klinge dann endgültig in den Hals eindrang, tief und tödlich.
    »So ist alles viel einfacher«, sagte er und fühlte sich plötzlich von einer sonderbaren Ruhe erfasst.
    Ein Schnitt genügte. Nicht mehr als eine halbe Sekunde, um ein Leben zu beenden, vielleicht noch weniger. Etwas mehr Druck, eine rasche Bewegung zur Seite, und alles war vorbei.
    Sebastian sah in die großen, dunklen Augen, und sie schienen ihn zu fragen: Was ist dann vorbei?
    Der Wind heulte lauter, wirbelte die Vorhänge am Fenster hoch, erreichte Annas Haar und zerzauste es. Wie zärtlich strich eine Strähne über Sebastians Hand mit dem Messer. Etwas in ihm verlagerte sich, und was eben noch Gewissheit gewesen war, wich einer Erkenntnis. Es konnte nicht richtig sein, Leben auszulöschen, und erst recht nicht dieses.
    Er zog die Hand mit dem Messer zurück. Anna rührte sich noch immer
nicht und sah stumm zu ihm auf, schien in seinem Gesicht nach etwas zu suchen. Einige Sekunden verstrichen, und dann lächelte sie, erleichtert und auch zufrieden. »Ich wusste, dass es einen Weg gibt«, sagte sie.
    Sebastian warf das Messer fort - es flog durchs Zimmer, klatschte gegen die Wand und fiel zu Boden -, sah dann auf die blutige Linie an Annas Hals und beobachtete, wie sie schrumpfte und verschwand. Er beugte sich vor, um sie zu küssen …
     
    Neues Entsetzen erschien in ihrem Gesicht, aber nun befand sie sich an einem anderen Ort, nicht in einem Hotelzimmer, sondern am Rande eines Waldes, über den niedrige Wolken hinwegzogen, so grau wie die über dem See. Zitternd saß sie da, an einen Baum gelehnt, unfähig dazu, aufzustehen und wegzulaufen - Simon Krysteks Gedanken zwangen sie dazu, sitzen zu bleiben und zuzusehen.
    Sebastian hörte das Echo ihrer Worte: Es gibt einen Weg .
    Der Wagen, mit dem Béla in Budapest hatte fliehen wollen, stand am Rand der nahen Straße, hinter einem anderen mit offenen Türen. Ein Mann war gestorben - jung, Mitte zwanzig, der größte Teil seines Lebens ungelebt. Seine Begleiterin lag im Gras, und Krystek hielt sie fest. Er hatte ihr den Kopf zur Seite gedreht, und am Hals zeichnete sich deutlich die Schlagader ab.
    »Komm, Sebastian«, sagte Krystek. »Dies ist für dich.«
    Nein!, flehten Annas Augen.
    Nein, dachte Sebastian.
    »Ja«, sagte er, näherte sich und stellte fest, dass die Pistole neben der Frau lag. Krystek sah kurz zu ihm auf, mit einem Lächeln, das nicht zu dem schmalen Gesicht mit den tief in den
Höhlen liegenden Augen passte, und Sebastian beobachtete, wie Krysteks Fingernagel des rechten Zeigefingers zu einer krummen, messerscharfen Kralle wurde. Die Frau - noch einige Jahre jünger als der Mann - blieb völlig still, als Krystek ihr mit der Kralle den Hals aufschlitzte. Blut strömte aus der klaffenden Wunde, rot und warm.
    Es gibt einen Weg.
    Sebastian machte nicht den Fehler, seine Absichten vorher zu durchdenken - Krystek hätte die Bilder in seinen Gedanken gesehen und Bescheid gewusst. Von einem Augenblick zum anderen trat er zu, erwischte Krystek am Kopf und sah, wie er auf der anderen Seite der Frau zu Boden ging. Fast im gleichen Moment ließ sich Sebastian fallen, griff nach der Pistole, rollte sich auf die Seite und drückte mehrmals ab.
    Die erste Kugel traf Krystek dort, wo er schon einmal verletzt worden war, in der Schulter. Die zweite streifte seine Schläfe und hinterließ einen blutigen Striemen. Die dritte bohrte sich ihm mitten in die Brust, und die vierte hätte den Kopf getroffen, wenn Krystek nicht im letzten Augenblick ausgewichen wäre. Er lag nicht im Gras, neben der Sterbenden, die jetzt leise röchelte, sondern stand einige Meter entfernt. Der rote Striemen an der Schläfe war

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