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Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Unterbewusstsein des Lesers eindringen und darin aufgehen können wie eine Saat in fruchtbarem Boden. Hieronymus hat in seiner Vulgata all das verändert und gestrichen, was er für gefährlich und von den Nephilim gefälscht hielt, aber vielleicht gingen ihre Manipulationen weit über das von ihm für möglich gehaltene Maß hinaus. Die Sechs hatten Zeit und Gelegenheit genug. Es wäre sogar möglich, dass sie in die Rolle des einen oder anderen Evangelisten geschlüpft sind.«
    »Wenn das bekannt wird …« Ignazio ringt um seine Fassung. »Wenn bekannt wird, dass Hieronymus die Bibel neu geschrieben hat, dass sie gar keine göttliche Wahrheit enthält, sondern …«
    »Sie enthält die göttliche Wahrheit, wie Hieronymus sie sah, und wir müssen ihm vertrauen«, sagt der Papst. »Wahrheit und Lüge liegen eng beisammen, das haben die Menschen immer gewusst. Die Bibel bleibt Gottes Wort an uns, auch wenn es andere, diabolische Stimmen in ihr gibt, leise und verborgen. Es ist unsere Aufgabe, sie zu übertönen.«

    Sebastian blinzelte mehrmals, aber ohne die erweiterte Wahrnehmung durch den Nephilim blieb es finster in der Höhle. Auf der rechten Seite tanzten kleine Lichter am oberen Ende einer langen Treppe, das Glühen von Taschenlampen.
    Raffaeles Gesicht kam aus der Dunkelheit, schien dicht über ihm zu schweben. »Sind wir stark genug gewesen?«, fragte der Junge.
    »Ja«, ächzte Sebastian. Er lag noch immer zwischen den Gesteinsbrocken, zu schwach, um aufzustehen.
    »Und die anderen? Sind sie weg, wirklich weg?«
    »Die anderen …« Sebastians Hand schloss sich um das Medaillon. Er hob es ein wenig an und stellte fest, dass der Deckel geschlossen war und es nicht mehr wog als vorher, obwohl es jetzt so viel mehr enthielt. »Ja, sie sind weg.«
    Er schaffte es noch, das Medaillon einzustecken, bevor Raffaeles Gesicht und auch der ferne Schein der Taschenlampen verschwanden.

EPILOG
    Als Sebastian erwachte, sah er über sich Annas Gesicht und das eines Mannes, der den weißen Kittel eines Arztes trug.
    »Beim letzten Mal hat mir die Diagnose nicht gefallen«, ächzte er. »Ich hoffe, diesmal ist sie besser.« Er blinzelte. »He, ich kann wieder sehen.«
    »Kein Gehirntumor«, sagte Anna und hielt ihm ihre Hand vor die Augen. »Wie viele Finger?«
    »Sieben?«
    »Perfekt«, sagte sie. »Es geht dir bestens.«
    Es folgten einige Untersuchungen, die Sebastian geduldig über sich ergehen ließ. Er erfuhr, dass er sich in einem Pariser Krankenhaus befand und fast drei Tage in einem komaähnlichen Schlaf verbracht hatte. Er fühlte sich noch immer völlig ausgelaugt, genoss es aber, endlich wieder allein im eigenen Kopf zu sein. Die fremde Präsenz existierte nicht mehr; sein Bewusstsein gehörte allein ihm. Mehrmals horchte er in sich hinein, doch Nikolaus war ebenfalls verschwunden. Ruhe in Frieden, dachte er. Du hast es verdient, nach achthundert Jahren.
    Später, als er mit Anna allein war, sah er die Veränderungen in ihrem Gesicht. Dünne Falten, die vielleicht wieder verschwinden würden, ließen sie älter aussehen, und hinzu kam eine Art Schatten, der selbst dann auf ihren Zügen lag, wenn sie am Fenster stand, im Sonnenschein.

    »Was ist mit Raffaele?«, fragte Sebastian, als sie am Tisch saßen und Kaffee tranken. »Wo ist er?«
    »Wenn man bedenkt, was er hinter sich hat, erholte er sich erstaunlich schnell«, sagte Anna. »Er schlief nur einen Tag. Gestern kam jemand aus dem Vatikan und holte ihn ab. Man wird sich gut um ihn kümmern, hieß es. Er soll nach Drisiano zu seinen Eltern zurückgebracht werden.«
    Die ersten Worte weckten Sorge in Sebastian, und nur ein Teil davon löste sich wieder auf. Er beschloss, Nachforschungen anzustellen, sobald er Gelegenheit dazu fand. Jede Art von Instrumentalisierung musste verhindert werden; Raffaele verdiente es, einfach nur ein Kind zu sein.
    »Der Mann, der Yvonne durch den Riss stieß und auf der anderen Seite starb …«, sagte Sebastian. »Er kam ebenfalls vom Vatikan. Ignazio Giorgesi. So lautete sein Name. Er ist es wert, in Erinnerung behalten zu werden.«
    »Woher weißt du das?«, fragte Anna erstaunt. »Ich habe es erst gestern erfahren, von dem Gesandten, der Raffaele abholte.«
    »Als er starb …« Sebastian setzte die Kaffeetasse ganz vorsichtig ab, als hätte er Angst, etwas zu verschütten. Manche Erinnerungen waren besonders klar. »Die Barriere war noch offen, und der Nephilim in mir empfing etwas von ihm.«
    Anna konnte in den vorsichtig

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