Äon - Roman
Flugzeugabsturz. Ich meine, mit der Maschine war alles in Ordnung. Aber der Kopilot drehte plötzlich durch.«
Torensen las, während sein Assistent sprach.
»Er schnappte auf eine sehr rationale Weise über, wenn du mich fragst«, fuhr Mehrendorf fort und schob die Ärmel seines Rollkragenpullovers hoch - er saß neben der Heizung. »Michail Tojew wartete, bis der Flugkapitän das Cockpit verließ, und löste dann einen Terroristenalarm aus, womit er die Pilotenkabine vom Rest des Flugzeugs isolierte. Anschließend ließ er die Maschine ins Meer stürzen. Es gab keine Überlebenden.«
»Sein Wahnsinn hatte Methode …«
»Ja.«
»So wie heute bei Albrecht Darnwald.«
»Wie meinst du das?«, fragte Mehrendorf verwirrt.
»Er wohnte in einem Apartment, ohne Garten. Warum hatte er eine Kettensäge? Man könnte meinen, er hat die Tat geplant.«
Torensen las weiter. »Ein Zugunglück in Spanien … ein rätselhafter
Brand in Prag … eine Gasexplosion in einem Wohnhaus in Neapel …«
»Katastrophen geschehen jeden Tag«, sagte Lothar Mehrendorf ernst. »Aber in den dort aufgeführten neun Fällen war nicht etwa technisches oder menschliches Versagen die Ursache, sondern plötzlicher menschlicher Wahnsinn.«
Torensen runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht.«
»Es dürfte den Leuten, die dadurch ums Leben gekommen sind, noch weniger gefallen haben, Alex.«
Jemand klopfte an den Raumteiler. »Wenn die Herren gestatten …«
Angela trat durch die »Tür« und lächelte entschuldigend. Sie war Obersekretärin des Morddezernats und hatte für alle ein offenes Ohr. Mit ihren einundfünfzig Jahren war sie jünger als Torensen, besaß jedoch eine ausgeprägte mütterliche Ausstrahlung.
»Man erwartet Sie oben, Alexander«, sagte Angela, und ihre Lippen formten die Worte »der Chef«, womit sie Polizeidirektor Alois Lechleitner meinte. Torensen fand, dass Leute mit so bayerisch klingenden Namen in Hamburg nichts verloren hatten.
»Vielleicht geht es um die Bilder«, spekulierte Mehrendorf, als Angela gegangen war.
Torensen stand auf. »Ich werd’s gleich erfahren. Hast du Lust, noch ein bisschen am Computer herumzuspielen, Lothar?«
»Um dem Wahnsinn auf die Schliche zu kommen?« Mehrendorf stand ebenfalls auf. »Woran hast du gedacht?«
»An eine statistische Häufigkeitsprüfung«, sagte Torensen. »Vergleich die Anzahl der aktuellen Fälle dieser Art mit der von früher. Und wenn es einen signifikanten Unterschied gibt,
was ich vermute … Finde heraus, wann die Häufung begonnen hat und ob bestimmte Orte oder Regionen mehr betroffen sind als andere.«
»Wonach suchen wir?«, fragte Mehrendorf.
»Nach einem Muster«, antwortete Torensen. »Nach einem gemeinsamen Element in all diesen Ereignissen.«
11
Reggio Calabria
S ebastian machte sich mit sehr gemischten Gefühlen auf den Weg zu seiner Exfrau, die eigentlich erst noch zu seiner Ex werden musste - sie waren getrennt, aber noch nicht geschieden. Erinnerungen stiegen in ihm auf, und mit ihnen Bitterkeit und auch Zorn, der nicht nur Anna Maria galt, sondern auch Wolfgang. Schon am Nachmittag hatte er ihn verflucht, als er beim Schreiben des Artikels gezwungen gewesen war, sich mit dem Thema Religion auseinanderzusetzen, und jetzt wuchs sein Groll so sehr, dass er ernsthaft in Erwägung zog, die Verabredung sausen zu lassen, sich stattdessen in Reggio in ein Strandcafé zu setzen und sich langsam volllaufen zu lassen. Der Alkohol hätte alles gedämpft, die Erinnerungen ebenso wie die Kopfschmerzen, und der Anblick des Meeres, das er sehr liebte, hätte ihm vielleicht für ein oder zwei Stunden Frieden gegeben.
Anna wohnte im Süden von Reggio Calabria, in der Nähe von San Gregório und Croce Valanidi, in einem hübschen Haus am Hang. Es war zwar keine Villa, doch mehr als ein Hühnerstall, und es bot einen wundervollen Blick aufs Meer und Sizilien. Ihre Eltern stammten mütterlicherseits aus dem alten Stadtadel von Reggio, waren nicht reich gewesen, aber
doch einigermaßen wohlhabend. Anna hatte nicht nur dieses Haus von ihnen übernommen, sondern auch mehrere inzwischen verpachtete Olivenhaine und einen kleinen Weinberg. Hinzu kam das Ferienhaus ihres Onkels, Smeraldina. Nach kalabrischen Verhältnissen stand sie recht gut da, und die Arbeit in der Klinik »Madonna della Consolazione« sicherte ihr ein ausreichendes Einkommen. Das war auch der Grund, warum der Richter bei der Separazione , der Trennung, verfügt hatte, dass Sebastian keinen
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