Äon - Roman
Beispiel Al Kaida.«
»Oder eine andere Terrororganisation. Es mangelt ja nicht an solchen Irren. Aber auf welche Art und Weise sollte man Einfluss auf so viele so weit voneinander entfernt wohnende Menschen nehmen? Es sei denn …«
Torensen nickte. »Es sei denn, man muss sie nicht aufsuchen, sondern sie kommen zu einem.«
»Ja«, bestätigte Mehrendorf. »Ich habe mir die Bewegungsmuster
der Betroffenen angesehen und herauszufinden versucht, welche Reisen sie innerhalb des letzten Jahres unternommen haben.«
»Und?«
»Die Ermittlungen laufen noch. Schutz der Privatsphäre und so. Aber bei inzwischen einunddreißig Fällen habe ich eine komplette Aufstellung der von den betreffenden Personen unternommenen nationalen und internationalen Reisen. Sie alle sind im vergangenen Jahr mindestens einmal in Italien gewesen, manchmal auch mehrmals.«
»In Italien?«, erwiderte Torensen und sah seinen Assistenten groß an.
»Genauer gesagt: in Kalabrien.«
Torensen runzelte die Stirn, dachte an die Fotos im Flur von Simon Krystek. Unmittelbar darauf erwachte eine weitere Erinnerung, an einen Reiseführer in der Wohnung von Monika Derbach, die erst ihre beiden Kinder und dann sich selbst umgebracht hatte. Er entsann sich an den Titel: »Entdecken Sie Kalabrien«.
»Das könnte das gemeinsame Element sein, Alex. Italien. Kalabrien«, sagte Mehrendorf. »Allerdings gibt es seit heute Mittag eine Komplikation.«
»Und die wäre?«
»Der Ermordete in der S-Bahn war vor vier Monaten ebenfalls in Kalabrien.«
»Es fahren jedes Jahr Millionen von Menschen nach Italien.«
»Stimmt, Alex. Und genau das macht mir Sorgen, wenn du verstehst, was ich meine.« Mehrendorf stand auf. »Ich bleibe am Ball.«
»Ja«, sagte Torensen nachdenklich. »Ja.« Er sah hoch, als sein
Assistent die Lücke zwischen den Raumteilern erreichte. »Lothar?«
»Ja?«
»Gute Arbeit.«
Mehrendorf lächelte. »Danke.«
Torensen hatte seinen Sessel zum Fenster gedreht, die Hände im Schoß gefaltet und blickte hinaus. Der Tag ging zu Ende, und die Stadt hüllte sich in ein Gewand aus Lichtern. Seit Jahren stellte er sich Hamburg als eine Frau in mittleren Jahren vor, die sich die Schönheit der Jugend bewahrt hatte, eine gebildete, kluge Frau, weltoffen und voller Kultur, aber auch eine Frau, die vulgär, gehässig und gemein sein konnte. Nach Torensens Meinung hatte alles zwei Seiten, eine schöne und eine hässliche, und in letzter Zeit zeigte ihm die Hanseatendame zu viel von den Dingen, die ihm weniger an ihr gefielen. Manchmal sehnte er die Pensionierung herbei, den Tag, an dem er all diesen Scheußlichkeiten den Rücken kehren konnte. Bei anderen Gelegenheiten fürchtete er ihn, weil er danach nicht mehr mithelfen konnte, die Welt zu einem etwas besseren Ort zu machen. An diesem Abend wäre er gern pensioniert gewesen. Es hätte ihm vermutlich viele unangenehme Gedanken erspart.
Torensen griff nach seinem Handy, rief das Telefonverzeichnis auf und wählte Sebastians Nummer. Es klingelte mehrmals, aber niemand antwortete. Nach etwa dreißig Sekunden forderte ihn der Anrufbeantworter auf, eine Nachricht zu hinterlassen, aber Torensen unterbrach die Verbindung. Er legte das Handy beiseite, überlegte kurz, suchte im Telefonbuch eine Nummer heraus, zog das Festnetztelefon zu sich heran und wählte.
Eine Stimme meldete sich, und er sagte: »Hier spricht Kommissar Torensen, Kriminalpolizei. Kann ich bei Ihnen Herrn Sebastian Vogler erreichen?«
»Einen Moment, bitte.«
Torensen wartete. Eine warnende Stimme flüsterte in ihm, so leise, dass er nicht verstand, was sie ihm sagen wollte. Aber es ging um Kalabrien.
»Hier ist Wolfgang Kessler, Herr Kommissar. Was kann ich für Sie tun?«
Torensen kannte den Namen. »Ich hatte gehofft, Sebastian bei Ihnen erreichen zu können.«
»Tut mir leid. Ich habe ihn nach Italien geschickt.«
»Oh.« Italien, dachte Torensen. »Ich habe ihn nicht auf seinem Handy erreicht.«
»Ich habe es heute auch mehrmals vergeblich versucht. Vielleicht ist er beschäftigt. Bestimmt wird er sich bald melden, und dann sage ich ihm, dass Sie mit ihm sprechen möchten, Herr Kommissar. Aber da ich Sie gerade an der Strippe habe …«
»Ja?« Torensens Blick galt wieder den Lichtern der Stadt.
»Ich weiß, dass Sebastian und Sie befreundet sind. Ich weiß auch, woher viele seiner Bilder stammen …«
Torensen wartete.
Kesslers Stimme klang ein wenig anders, als er sagte: »Mir ist bekannt, dass Sie in Bezug auf
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