Äon - Roman
erwiderte den Kuss mit einer Leidenschaft, die ihn verblüffte. Er wusste nicht, wann er zum letzten Mal eine Frau geküsst hatte - es lag Jahre zurück -, und bestimmt nicht auf diese Weise, mit einem Feuer, das direkt in die Lenden fuhr. Die Glut erfasste auch seine Brust, konzentrierte sich dort an einem bestimmten Punkt.
Yvonne wich zurück. »Und genau das willst du auch. Aber leider ist es jetzt zu spät, denn … du musst sterben.«
Sie bohrte ihm das Messer, das bereits zwei Zentimeter in seiner Brust steckte, tiefer in den Leib.
Torensen sah es aus weit aufgerissenen Augen, sah, wie sich die Klinge mit einem leisen Knirschen tiefer in seinen Körper fraß und wie Blut aus der Wunde quoll, er fühlte den Schmerz und wie ihm die Waffe aus der erschlaffenden Hand fiel, er hörte, wie sie auf den Boden prallte, und die ganze Zeit über
wünschte er sich nichts sehnlicher als einen zweiten Kuss von der gerade erlebten Art.
»Armer Alexander«, sagte Yvonne. »Er muss diese Welt jetzt verlassen. Und er nimmt alles mit, was er im Lauf seines Lebens gesammelt hat, sein ganzes Wissen. Alles verschwindet in der großen Leere …«
Das Atmen fiel Torensen schwer, und Schwäche breitete sich in ihm aus. Das Messer steckte fast bis zum Heft in ihm, als seine Beine nachgaben, aber er sank nicht etwa zu Boden. Yvonnes Hand am Messer hielt ihn fest, seine ganzen achtzig Kilo, und durch sein nach unten ziehendes Gewicht schnitt die Klinge in der Brust nach oben.
»Armer Alexander«, säuselte die Frau. »Ist fast schon tot.« Mit den Fingerkuppen der freien Hand strich sie ihm über die Lippen.
Torensen hatte an Kessler gedacht und gebetet, dass er im letzten Moment in der Tür erschien und ihn rettete, aber die Berührung am Mund verscheuchte diese Gedanken und sogar den Schmerz. Das Blut in seinem Körper, das nicht aus der immer größer werdenden Brustwunde floss, schien sich in den Lenden zu sammeln und schoss ihm in den Penis.
Er starb mit dem härtesten Ständer seines ganzen Lebens.
Als Wolfgang Kessler im Aufzug stand und sich in den fünften Stock des Wohnhauses emportragen ließ, überlegte er, wie er das Gespräch mit Torensen angehen sollte. Eigentlich durfte der Kommissar gar keine Informationen weitergeben, erst recht nicht, nachdem sich der BND eingeschaltet hatte. Aber Kessler wusste aus Erfahrung, dass der eine oder andere Deal möglich war, wenn er beiden Seiten nutzte, und das bedeutete:
Er musste Torensen Informationen geben, mit denen er etwas anfangen konnte. Er kam mit einem Köder besonderer Art. Ein italienischer Journalist namens Enrico Dalla Torre, der in Rom für die Repubblica arbeitete, gehörte zu Kesslers speziellen Kontakten. Er hatte ihn vor einigen Jahren über Sebastian kennengelernt und schätzte ihn vor allem als jemanden, der gute Kontakte zum Vatikan hatte. Über welche Quellen Dalla Torre dort verfügte, blieb sein Geheimnis, aber es sprudelten immer wieder sehr interessante Informationen aus ihnen. Vor zwei Stunden hatte Kessler eine E-Mail aus Rom bekommen, mit dem Hinweis, dass »gewisse Kreise des Vatikans« mit internationalen Geheimdiensten - unter ihnen der BND - zusammenarbeiteten und Sonderbeauftragte nach Drisiano in Kalabrien schicken wollten.
Der Lift erreichte sein Ziel, und die Tür glitt auf. Kessler trat in den Flur, orientierte sich und ging nach links. Die Tür am Ende, Nummer 11.
Erstaunlicherweise stand sie einen Spaltbreit offen.
Kessler zögerte, drückte die Tür vorsichtig etwas weiter auf und rief: »Herr Torensen? Hier ist Wolfgang Kessler.«
Leise klassische Musik kam aus der Wohnung. Eine Antwort blieb aus.
»Herr Torensen?«
Kessler trat ein, sah den Toten und blieb wie angewurzelt stehen. Nicht eine Sekunde zweifelte er daran, dass die Gestalt am Boden tot war - niemand konnte so viel Blut verloren haben und noch leben. Kesslers Blick huschte umher, suchte in dunklen Ecken nach Bewegung, doch nichts rührte sich. Sein Puls raste, als er sich tiefer in die Wohnung wagte. Bei der Leiche ging er in die Hocke und drückte die Kuppen von Zeigeund
Mittelfinger an den Hals, ohne auf den Toten hinabzusehen - er hielt noch immer Ausschau, blieb wachsam.
Kein Puls, wie erwartet. Aber der Leichnam war noch warm. Der Mord musste gerade erst geschehen sein, vor wenigen Minuten.
Kessler senkte den Blick und sah das Messer. Es steckte sechs oder sieben Zentimeter unter dem Halsansatz - der Täter hatte es offenbar mitten in die Brust gebohrt und
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