Äon - Roman
am Fenstertisch, und Simon Krystek lächelte.
Sebastian ließ Messer und Gabel fallen. Das Messer klapperte auf den Teller, und die Gabel landete auf dem Boden. Die an den Nebentischen sitzenden Restaurantbesucher sahen sich erstaunt um.
Der Mann am Fenstertisch stand auf und lächelte noch immer. Sebastian erhob sich ebenfalls, aber langsamer, und er hatte sich noch nicht ganz aufgerichtet, als zwei Männer an einem Ecktisch aufsprangen. Einer von ihnen holte einen Ausweis hervor, und der andere hielt plötzlich eine Waffe in der Hand. »Simon Krystek, Sie sind verhaftet!«
Aber der Mann mit dem schmalen Gesicht und den auffallend tief in den Höhlen liegenden Augen achtete gar nicht auf sie und sah noch immer Sebastian an.
Es regnet nicht mehr, und der Wind hat nachgelassen, aber es ist noch immer kalt. Sterne funkeln am Himmel, als Nikolaus durch das Lager geht. Lagerfeuer brennen an den Hängen und wärmen müde Kinder, Jugendliche und auch so manchen Erwachsenen. Immer wieder bleibt er stehen und spricht jenen, die sich ihm in Köln und unterwegs angeschlossen haben, Mut zu. Es gelingt ihm, die richtigen Worte zu finden, Niedergeschlagenheit zu vertreiben und neue Zuversicht zu wecken. Wir haben den größten Teil des Weges geschafft, sagt er, wenn er einige Minuten im
Schein der Flammen sitzt und zu den Seinen spricht. Jetzt ist es nicht mehr weit. Wir müssen über die Alpen, wie einst Hannibal, und wenn die Berge hinter uns liegen, kommen wir leichter voran. Es ist nicht mehr weit bis nach Genua und zum Meer.
Mitte Mai, als der Kreuzzug der Kinder Köln verlassen hat, sind es zwanzigtausend gewesen, die voller Entschlossenheit nach Süden zogen. Wie viele sind mir geblieben?, fragt sich Nikolaus, als er den Weg fortsetzt. Er weiß: Auch an diesem Abend, wie an den Abenden zuvor, sind neue Gräber ausgehoben worden, und bestimmt wird das auch am Abend des nächsten Tages nötig sein.
»Nikolaus!«
Zwischen zwei Lagerfeuern, halb in der Dunkelheit, bleibt der Junge stehen. Hubertus läuft auf ihn zu. »Katrin …«, schnauft er. »Sie ist tot. Die Heiler konnten nichts mehr für sie tun.«
Später am Abend - in der Nacht, als die meisten in Zelten oder draußen unter dicken Decken schlafen und die Lagerfeuer heruntergebrannt sind - steht Nikolaus auf einem Felsen. Er blickt zum Himmel empor und bittet Gott mit tränennassen Wangen um Kraft.
Die beiden Männer näherten sich Krystek, und der mit dem Ausweis holte ebenfalls eine Waffe hervor. Ein dritter Mann kam von der anderen Seite des Raums und ging zu dem Tisch, an dem Sebastian saß. Lettische Polizisten in Zivil, begriff er. Und sie wollten nicht nur Simon Krystek verhaften, sondern auch ihn.
Sebastian stand inzwischen und blinzelte, um die anderen Bilder zu vertreiben, die nicht ins Hier und Jetzt gehörten. Er beobachtete das Geschehen, ohne in der Lage zu sein, einen einzigen Ton hervorzubringen. Nur noch wenige Meter trennten die beiden ersten Männer von Krystek, als der den
Kopf drehte, und wie schon einmal gewann Sebastian den Eindruck, dass sich die Zeit dehnte, was ihm Gelegenheit gab, alles genau zu beobachten: Krysteks Hand, die in seine Jacke griff, eine Pistole hervorholte, sie auf die beiden Polizisten richtete und abdrückte; die aus dem Lauf der Waffe kommende Kugel, die drei Meter zurücklegte und sich in die Brust des ersten Mannes bohrte; das aus der Wunde spritzende Blut; das Gesicht, vom Schmerz in eine Grimasse verwandelt; der fallende Körper …
Ein Schuss löste sich aus der Waffe des Mannes, als dieser auf den Boden prallte …
… wieder ein dumpfer Knall, gefolgt von einem Klirren, als die Kugel das Fenster durchschlug und ein Loch darin hinterließ …
… Schreie im Restaurant, ebenfalls dumpf und wortlos; Stüh le kippten, als die Menschen versuchten, in Deckung zu gehen; Männer und Frauen warfen sich zu Boden …
Sebastian sah ein Glas Rotwein, das wie in Zeitlupe kippte. Sein Inhalt strömte rot wie Blut übers weiße Tischtuch und tropfte auf den Boden …
Für einen Sekundenbruchteil verging die Zeit normal und gefror dann erneut. Der zweite Polizist machte einen schnellen Schritt nach vorn und bewegte sich dann erneut quälend langsam. Er richtete die Waffe auf Simon Krystek, der seinerseits auf ihn zielte. Beide Pistolen entluden sich; zwei Kugeln flogen aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zu und in einer Entfernung von nur wenigen Zentimetern aneinander vorbei. Die eine schlug in den
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