Äon - Roman
Hals des Polizisten und zerfetzte die Schlagader; eine Fontäne aus Blut spritzte zur Seite, auf die weiße Pelzjacke einer Frau, die halb unter dem Tisch lag
und schrie. Die andere Kugel traf Krystek an der Schulter, doch in seinem Gesicht veränderte sich nichts. Es blieb seltsam ausdruckslos, als er kurz auf die Wunde sah und dann den Blick auf den dritten Polizisten richtete, der sich Sebastians Tisch genähert hatte, inzwischen aber stehen geblieben war und versuchte, seine Waffe zu ziehen.
»Auf den Boden!«, rief Sebastian Anna zu, ohne daran zu zweifeln, dass sie ihn hören konnte. Im nächsten Augenblick sprang er am Tisch vorbei, angetrieben von einer Kraft, die ihn erstaunte, sich aber seltsam vertraut anfühlte, so als wäre sie schon immer in ihm gewesen. Krystek schwang die Pistole herum, richtete sie auf Sebastian, lächelte und schoss.
Es war ein Moment innerhalb eines Moments, eine Blase in der Zeit, die ihm sonderbare Freiheit brachte: Körper und Geist waren ohne Ballast, bewegten sich ohne Fesseln und Bremsen, im Gegensatz zur heran kriechenden Kugel, die den Gesetzen der Ballistik gehorchen musste. Sebastian sah sie herankommen, beobachtete den kleinen Luftwirbel hinter ihr und die Reflexionen des Lampenlichts auf dem silbernen Geschossmantel. Wie sonderbar, dachte er halb entrückt, dass ein so kleines Ding so großen Schaden anrichten konnte. Er trat zur Seite, blickte der vorbeischwebenden Kugel nach und vergewisserte sich, dass sie für niemanden eine Gefahr darstellte. Dann wandte er sich wieder Simon Krystek zu, der die Waffe gesenkt hatte, noch immer lächelte und so nickte, als wollte er sagen: Na bitte. Habe ich es doch gewusst.
Er lief los und war viel schneller als alle anderen Personen im Restaurant, schneller auch als Sebastian, der ihm folgte. Krystek stürmte an dem dritten Polizisten vorbei, der weiter
dorthin zielte, wo der Mann eben noch gestanden hatte, erreichte den Ausgang des Restaurants und das Foyer, wo sich erschrockene Menschen duckten.
»Bleiben Sie stehen, verdammt!«, rief Sebastian und bemühte sich vergeblich, einen Sprint einzulegen - seine Beine wollten nichts davon wissen. Mehr als zehn Meter vor ihm erreichte Krystek die Tür, riss sie auf und war mit einem Satz draußen auf dem Bürgersteig.
Die Tür hatte sich wieder geschlossen, als Sebastian sie erreichte, und er musste erstaunlich viel Kraft aufwenden, um sie zu öffnen - sie schwang nur sehr langsam auf. Draußen wehte eiskalter Wind, und Schneeflocken tanzten in der Luft. Die Abenddämmerung hatte begonnen, und die Straßenlaternen brannten bereits. Sebastian blieb unter dem Vordach stehen und blickte nach rechts und links - keine Spur von Simon Krystek. Aber dort drüben, auf der anderen Straßenseite, bereits Dutzende von Metern entfernt … Ein laufender Mann, der nur einen Anzug trug, ohne Jacke oder Mantel. Wie konnte Krystek mit einer Kugel in der Schulter so schnell sein?
Sebastian lief los, hörte lautes Hupen in unmittelbarer Nähe und legte einen verzweifelten Zwischenspurt ein, um nicht überfahren zu werden. Wenige Sekunden später rauschte ein viel zu schneller Lieferwagen nur knapp an ihm vorbei. Er rannte weiter, wich einer Limousine aus, erreichte die andere Straßenseite, rutschte dort auf Schnee und Eis aus, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin, direkt neben einer dicklichen Frau, die einen Pelzmantel trug und einen kleinen Hund an der Leine führte. Der Köter kläffte wie verrückt. Sebastian schenkte ihm und seinem Frauchen keine Beachtung,
kam wieder auf die Beine, lief einige Schritte und blieb dann stehen - Krystek war verschwunden.
Böiger Wind wehte ihm Schneeflocken ins Gesicht, als er die Passanten und den Verkehr auf der Elizabetes-Straße beobachtete. Schließlich drehte er sich um, ging über den Bürgersteig und sah zum Reval Hotel Latvija auf der anderen Straßenseite. Die Fassade schien sich aufzulösen …
Blau erstreckt sich das Meer vor der Stadt, und die Sonne scheint warm vom Himmel. Es ist Hochsommer, der 25. August des Jahres 1212. »Wir haben es geschafft«, sagt Hubertus, der neben Nikolaus an der Spitze der langen Kolonne marschiert, die durch ganz Genua reicht. Die Bewohner der Stadt säumen den Weg und jubeln den Kindern zu. Viele von ihnen bringen ihnen zu essen und zu trinken, und die jungen Kreuzfahrer greifen dankbar zu. Sie sind müde nach dem langen Marsch, aber auch erleichtert, denn sie glauben die größten Schwierigkeiten
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