Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Äon - Roman

Titel: Äon - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
Geräusche, die zunächst ohne Bedeutung zu sein schienen, wie das Flüstern des Winds oder das Rauschen des Meeres. Aber sie fanden ein Echo in einem Teil seines Gedächtnisses, von dessen Existenz er bis eben gar nichts gewusst hatte.
    »Ich heiße Raffaele«, sagte der Junge.
    »Ja, so lautet einer deiner Namen. Komm.« Yvonne nahm seine Hand, und sie gingen über den Platz vor dem Bahnhof zur Straße. Mehrere Taxis standen dort, aber die Frau schenkte ihnen keine Beachtung.
    »Habe ich noch andere?«, fragte der Junge.
    Die Frau lächelte erneut. Ihr Lächeln gefiel Raffaele und erinnerte ihn ein wenig an seine Mutter. Obwohl … Als er jetzt darüber nachdachte, begann er zu ahnen, dass Teresa vielleicht gar nicht seine richtige Mutter war.
    »Jeder von uns hat viele Namen«, sagte Yvonne. »Aber nur
einer von ihnen ist der richtige. Meinen hast du gerade gehört.«
    »Wie lautet mein richtiger Name?«, fragte Raffaele neugierig.
    Yvonne sah ihn nachdenklich an. »Dazu ist es noch zu früh.« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als einige Meter entfernt ein Wagen am Straßenrand hielt. »Da sind sie«, sagte sie zufrieden.
    Es war ein großes Auto, dunkel, mit vier Türen. Die Beifahrertür öffnete sich, und ein Mann stieg aus, gekleidet in einen Anzug. Er und die Frau sahen sich nur kurz an, ohne ein Wort zu sagen, ohne sich die Hand zu reichen, aber Raffaele gewann den Eindruck, dass sie irgendwie miteinander gesprochen hatten. Der Mann richtete den Blick auf ihn, und plötzlich erschien er ihm ebenso vertraut wie Yvonne. Raffaele war ihm nie zuvor begegnet, und doch … kannte er ihn.
    »Ich bin Granville«, sagte er, und Raffaele hörte einen französischen Akzent.
    »Aber das ist nicht dein wahrer Name, oder?«, fragte er. »Yvonne hat mir erzählt, dass wir alle viele Namen haben, aber nur einen richtigen. Sie hat mir ihren richtigen genannt. Wie lautet deiner?«
    Das »wir« klang erst seltsam in Raffaeles Ohren, doch als er darüber nachdachte, hielt er es für angemessen.
    Granville wechselte einen kurzen Blick mit Yvonne. Dann sah er Raffaele an, öffnete den Mund …
    Wieder ertönten seltsame Geräusche, wie von Wind und Meer, und auch in diesem Fall fanden sie tief in dem Jungen ein vertrautes Echo. Seine Eltern fehlten ihm ebenso wie Don Vincenzo, doch zwei alte Freunde waren in der Nähe, und er fühlte sich so sicher wie im Schoß seiner Familie.

    »Und du?«, fragte der Mann. »Kannst du mir deinen richtigen Namen nennen?«
    »Ich heiße …« Raffaele sprach nicht weiter. Wind und Meer verstummten in ihm.
    »Er ist noch nicht so weit«, sagte Yvonne. Sie öffnete die Tür zum Fond des Wagens. »Steig ein, Raffaele.«
    Als sie alle in dem Wagen saßen, fragte die neben dem Jungen sitzende Frau: »Was hältst du von einer Fahrt nach Paris, Raffaele?«
    Paris, dachte er. Die Hauptstadt von Frankreich. Eine wirklich große Stadt. »Ich bin nie dort gewesen.«
    »Oh, da irrst du dich«, sagte Yvonne und legte ihm sanft die Hand auf den Arm, als sich der Wagen in Bewegung setzte. »Wir sind dort gewesen, wir alle, im Jahr ohne Sommer. Vor fast zwei Jahrhunderten.«

29
    Riga
    D ie Zelle hätte kaum einfacher eingerichtet sein können: ein schmales Bett, in der Ecke eine Stahltoilette mit Waschbecken, am kleinen, vergitterten Fenster ein wackliger Tisch mit einem Stuhl. Draußen gab es nichts weiter zu sehen als einen dunklen Hinterhof, an dem Sebastian schnell das Interesse verloren hatte. Er wusste nicht genau, wie lange er schon auf dem Bett saß - die lettischen Polizeibeamten hatten ihm die Uhr und alle anderen persönlichen Dinge abgenommen -, aber nach seinem Zeitgefühl waren mindestens zwei Stunden vergangen. Es musste also gegen elf Uhr abends sein.
    Sebastian starrte an die ockerfarbene Wand und betrachtete die Kritzeleien, die andere Häftlinge vor ihm dort hinterlassen hatten. Die lettischen Schriftzeichen hätten für ihn genauso gut Hieroglyphen sein können, aber die Illustrationen waren deutlich genug, zum Beispiel Strichmännchen mit Schlingen um den Hals oder andere, offenbar Männlein und Weiblein, die sich miteinander vergnügten. Manchmal, wenn er zu lange den Blick auf sie gerichtet hielt, schienen sie plötzlich lebendig zu werden und bewegten sich, und dann sah Sebastian schnell zur Seite. Er wollte ruhig bleiben und nicht den Eindruck erwecken, die Kontrolle über sich zu verlieren - für den Fall,
dass man ihn beobachtete. Zum wiederholten Mal ließ er den Blick über

Weitere Kostenlose Bücher