Äon - Roman
Einige hundert Meter voraus sah er eine weitere Ampel, und sie zeigte grün. Der Verfolger kam ebenfalls aus der Einbahnstraße, wich geschickt einem anderen Fahrzeug aus und näherte sich wieder.
Kessler hob das Handy.
»Hallo? Ist dort die Polizei?«
»Ja. Bitte nennen Sie Namen und …«
»Ich heiße Wolfgang Kessler«, stieß er hervor und gab Gas. Mit mehr als hundert Stundenkilometern raste er der Kreuzung entgegen. »Ich bin Chefredakteur der Zeitschrift Zack! . Bitte hören Sie mir gut zu. Ich werde von einem Wagen verfolgt, und wer auch immer darin sitzt: Er hat eben auf mich geschossen!«
»Wo sind Sie jetzt, Herr Kessler?«, fragte die Frau. Sie klang geradezu aufreizend ruhig.
»Irgendwo in der Nähe von Borgfelde, denke ich. Ich bin viel zu schnell, um die verdammten Straßennamen zu lesen, und der Bursche ist noch immer hinter mir.«
Die Ampel sprang um.
Kessler schaltete die Freisprechanlage ein, warf das Handy auf den Beifahrersitz und schloss beide Hände ums Steuer. Anhalten kam nicht infrage, so viel stand fest.
»Können Sie den Wagen beschreiben, der Sie verfolgt?«, ertönte es aus dem Mobiltelefon. »Sehen Sie das Kennzeichen?«
»Ich sehe nur die verdammten Scheinwerfer!«
Die Stimme der Frau erklang erneut, aber Kessler hörte sie gar nicht mehr. Er flog geradewegs auf die Kreuzung zu, wo der Verkehr rechts und links gerade grünes Licht bekommen hatte. Dutzende von Autos rollten los.
Zwei Sekunden später erreichte er die Kreuzung und bremste, aber er hatte noch immer achtzig oder neunzig Sachen drauf, als er über die rote Ampel fuhr. Links gleißte Scheinwerferlicht, so hell und nahe, dass er den Mazda nach rechts riss. Wieder brach auf der glatten Fahrbahn das Heck aus, und Kessler hatte den Wagen gerade abgefangen, als er direkt vor sich einen wartenden Linksabbieger sah. Rechts waren mehrere Wagen unterwegs - kein Platz. Blieb nur ein Ausweichmanöver nach links.
Kessler verfehlte den Abbieger um Haaresbreite, doch der hatte aus gutem Grund da gestanden und gewartet: Es herrschte starker Gegenverkehr, und in der Sekunde, die Kessler blieb, sah er keine Lücke. Er drehte das Steuer noch einmal nach links, hörte lautes Hupen und dann ein Krachen, als etwas das Heck des Mazdas traf. Der Wagen, immer noch sechzig oder siebzig Stundenkilometer schnell, wurde herumgerissen, jagte
über die Bürgersteigkante hinweg und prallte frontal gegen eine Hauswand.
Das Bewegungsmoment schleuderte Kessler nach vorn, in die Gurte und in den Airbag, und es wurde dunkel um ihn.
28
Norditalien
S ie verließen den Zug in einer Stadt, die Raffaele nicht kannte. Es war längst dunkel geworden, aber die Stadt kam noch nicht zur Ruhe. Überall waren Menschen im hellen Lampenschein unterwegs, und auf den Straßen herrschte reger Verkehr. Der Junge musterte die vorbeieilenden Erwachsenen, aber er sah nicht ein Gesicht, das er kannte.
»Wann kann ich zu meinen Eltern?«, fragte er. »Wo ist Don Vincenzo?«
Die Frau an seiner Seite legte ihm den Arm um die Schulter. »Du brauchst sie nicht«, sagte sie. »Ich bin bei dir.«
Raffaele erinnerte sich daran, dass Bischof Munari und andere Personen ihn von Drisiano fortgebracht hatten. Nach der anfänglichen Aufregung und dem Durcheinander hatte er sich sehr matt und benommen gefühlt. Er entsann sich an Kerzen und die Stimme eines Mannes, den er nicht kannte, und dann war diese Frau gekommen. Sie war freundlich und hatte ihm geholfen. Er wusste, dass er ihr vertrauen durfte, obwohl er sie erst seit wenigen Stunden kannte. Aber vielleicht stimmte das nicht ganz. Vielleicht war er ihr doch schon einmal begegnet, vor diesem Tag, doch jene Erinnerung blieb seltsam vage und verwirrend.
»Wo sind wir?«, fragte er. Reggio Calabria war groß, aber diese Stadt schien noch viel größer zu sein. So viele Lichter, so viele Menschen … Einige von ihnen litten. Er hörte ihre inneren Stimmen, die von Schmerz und Leid erzählten, manche leise, andere lauter. Gottes Kraft begleitete ihn noch immer. Er wusste, dass er nur die Hand ausstrecken und die Frau dort berühren musste, um sie von ihrer Migräne zu befreien …
»Jetzt nicht«, sagte die Frau, obwohl er keinen Ton gesagt und sich auch nicht bewegt hatte. »Vielleicht später. Falls es nötig wird.«
»Wie heißt du?«, fragte Raffaele und sah zu der blonden Frau auf.
»Yvonne«, antwortete sie. Ihre Lippen formten ein seltsames Lächeln. »Aber mein wahrer Name lautet …«
Der Junge hörte ihn:
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