Aeon
machte sich daran, das Tor zu eröffnen. Im Norden füllte ein rötlicher Lichtschein den Korridor. Rasch schlug das Spektrum um: Orange, scheußliches Grünblau.
Das schrille Pfeifen des Klavikels war geradezu schmerzhaft. Patricia sah einen Strudel von Möglichkeiten zu ihren Füßen und dann den Kreis, der keinen Meter breit war und in dem sich verzerrt ein blauer Himmel, braune Landmassen, große Gebilde und Wasser abzeichneten.
Sie hatte nicht den präzisen Ort. Sie würde auf Land ankommen, das spürte sie, aber wo auf der Erde, das war fraglich. Jedenfalls würde das Traktionsfeld sie sicher absetzen.
Laniers Bild beugte sich in die Traktionsblase und küsste sie zum Abschied. Seine Lippen waren weich und warm.
»Geh!«, drängte Olmy.
Sie trat durchs Tor. Es war wie eine Rutschpartie über einen Hang hinunter. Alles drehte sich ringsum. Sie ließ das Klavikel los und packte es wieder mit beiden Händen. Da war das Rauschen von Wasser, etwas Großes und Spitzes und Weißes in der Nähe, die grelle Sonne …
Lanier und Olmy wandten sich der näher kommenden Strahlung zu.
Es ist nicht wie Sterben, dachte Lanier. Da ist ein anderes, vollständiges Ich, das dem entgeht. Aber er wird von dem hier nichts erfahren, da ich mich nie »zurückmelde«.
Ein gleißender Schein hüllte sie ein, der heller war als jedes Licht oder Feuer. Olmy, der das Gefühl genoss, verzog das Gesicht und grinste zugleich. Er hatte schon früher Partielle von sich in den Tod geschickt und nie erfahren, was sie dabei empfanden. Nun würde er es selber empfinden …
Und der Original-Olmy würd es trotzdem nie erfahren.
»Die Monitore halten der eigentlichen Plasmafront den Bruch teil einer Sekunde stand«, erklärte er Lanier. »Wir werden also einen Moment wie im Innern eines Sterns erleben …«
Lanier, der weder Schmerz noch große Furcht empfand, wandte sich direkt nach Norden zum Kern der Glut, die mit sechstausend Kilometern pro Sekunde heranfegte.
Es blieb nicht mal Zeit, die Empfindung wahrzunehmen.
Auf dem Defektschiff, das dem wütenden Plasma bedrohlich nahe war, rieb Lanier sich die Augen und sagte sich immer wieder, dass er seine Pflicht erfüllt und die ihm anbefohlene Patricia bis zuletzt begleitet hatte.
Das Klavikel lag noch in ihrer Hand und die Tasche hing noch über der Schulter, als Patricia aus fünf, sechs Metern Höhe ins Wasser fiel.
Sie wurde nicht einmal nass. Sie lag wie betäubt in der treibenden Traktionsblase. Das Wasser – ein Fluss oder Kanal – trug sie einige Dutzend Meter von der Toröffnung fort. Sie blickte zur Seite, um zu sehen, wo sie war.
Das war gut so. Eine intensive, bläulich weiße Feuerzunge zuckte durchs Tor und fuhr hinter Patricia ins Wasser, das verdampfte und alles in weiße Schwaden hüllte. Zu ihrem Glück war das Tor innerhalb einer Millionstel Sekunde zugeschmolzen und dicht.
Patricia lag halb blind in der Blase und bedeckte mit der Hand die Augen. So trieb sie noch ein paar Minuten dahin, bis sie auf eine Sandbank geschwemmt wurde. Inzwischen hatten sich ihre Augen wieder erholt.
Sie stand auf und blickte sich mit klopfendem Herzen um.
Sie befand sich am Ufer eines breiten, geraden Kanals. Das braune, schlammige Wasser floss träge, das Ufer war mit hohem grünem Schilf bewachsen. Der Himmel war strahlend blau und wolkenlos und die Sonne grell.
Nicht ohne Skrupel stellte sie die Traktionsblase ab und tat einen tiefen Atemzug. Die Luft war sauber und warm.
Patricia war schwerer als auf Timbl. Diesmal hatte sie keinen Gürtel, der ihr Auftrieb verschaffte. Die Schwerkraft war unangenehm.
Das war unleugbar die Erde und sicher kein atomar verseuchtes Ödland. Vielmehr kam ihr die Gegend bekannt vor. Sie hatte das alles schon einmal gesehen – in der Bibelstunde, die sie auf Ritas Drängen als Kind besucht hatte.
Patricia bedeckte die Augen und blickte nach Westen.
Jenseits des Kanals standen auf einer Anhöhe strahlend weiße Pyramiden, die Kilometer entfernt, aber in der klaren Wüstenluft gut zu sehen waren. Patricia wurde ganz aufgeregt.
Ägypten. Von Ägypten käme sie nach Hause – das wäre weiter kein Problem.
Sie wandte sich um. Auf einem wackligen Holzsteg im Schilf stand ein kleines braunes Mädchen, keine zehn, elf Jahre alt, das bis auf ein weißes Lendentuch nackt war. Das Haar hing in vielen langen, straffen Zöpfen herab; in die Spitzen war jeweils ein blauer Stein geflochten. Das Mädchen sperrte vor Staunen und Furcht den Mund
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