Aeon
Zivilpersonal von Amerika und Eurospace waren Vertreter aus Russland, Indien, China, Brasilien, Japan und Mexiko zur Mitarbeit im wissenschaftlichen Team eingeladen. Einige Australier und jemand aus Laos sollten demnächst dazustoßen. Carrolson räumte freimütig ein, dass es Probleme mit den Russen gab. Sie waren erst seit einem Jahr auf dem Stein, nachdem sie sich endlich gewissen Beschränkungen unterworfen hatten. Trotz dieser Zustimmung verlangten sie nun (zu Recht, wie Patricia meinte) Zugang zu jeglichen Daten über den Stein, die Bibliotheken eingeschlossen. Auf den ausdrücklichen Befehl von Hoffman und des Präsidenten waren die Bibliotheken, wie Carrolson erklärte, ausnahmslos den Amerikanern vorbehalten.
»Sie würden uns eine ganze Menge Ärger ersparen, wenn sie überall freien Zutritt gewähren würden«, stellte Carrolson fest. »Ich verabscheue Geheimniskrämerei.« Dennoch sorgte sie für die Einhaltung ihrer Befehle.
»Und wer kümmert sich ums wissenschaftliche Team, während du hier bei mir bist?«, erkundigte sich Patricia.
Carrolson lächelte. »Ich hab Rimskaya damit betraut. Er ist ein alter Nörgler, aber kann sich durchsetzen. Und die Leute werden es sich bestimmt zweimal überlegen, bevor sie ihm mit Beschwerden kommen. Ich bin da harmlos. Ab und zu brauche ich so ’nen Urlaub.«
Auf Laniers Memoblock war genauestens angegeben, mit wem Patricia über ihre Erkenntnisse sprechen durfte. Wen n’s um die Bibliothek ging, so durfte sie sich nur mit Rimskaya, Lanier und Rupert Takahashi besprechen, einem weiteren Mitglied des wissenschaftlichen Teams, das sie noch nicht kennengelernt hatte. Takahashi nahm gerade an der jüngsten Expedition im Korridor teil.
Patricia nahm mit Carrolson und den drei chinesischen Kollegen den Lunch ein, hielt dann ein halbstündiges Nickerchen, trug ihre Tafel und einen Klappstuhl hinüber zum Zwergwald und setzte sich dort, um Notizen zu machen. Eine Stunde später gesellte sich Carrolson zu ihr, die eisgekühlten Tee in einer Thermoskanne und ein paar Bananen mitbrachte.
»Ich brauch Handwerkszeug«, sagte Patricia. »Kompass, Lineal, Bleistifte … Ich habe mir überlegt, ob es möglich ist, dass einer der Elektroniker mir ein Gerät baut?«
»Was für eins denn?«
»Ich möchte feststellen, was für einen Wert Pi im Korridor hat.«
Carrolson spitzte den Mund. »Wozu?«
»Nun, soviel ich gelesen habe, besteht der Korridor ganz bestimmt nicht aus Materie, sondern aus was völlig anderem. Letzte Nacht – ich meine in der letzten Schlafzeit – sprach ich mit Farley, die mir erklärte, was sie weiß. Heute früh warf ich einen Blick in die Unterlagen, die Rimskaya und Takahashi vor meiner Ankunft zusammenstellten.«
»Wieder in den bescheidenen Anfängen der Superraum-Mathematik gelandet«, kommentierte Carrolson spöttisch. »Rimskaya, bleib bei deinen Leisten!«
»Allerdings sind ein paar seiner Vorschläge nicht uninteressant. Morgen bringt Karen mich zum Bohrloch.« Sie deutete zur Plasmaröhre und Achse an der südlichen Kappe hinauf. »Wenn ich bis dahin ein Pi-Meter hätte, könnte ich vielleicht mehr erfahren.«
»Geht in Ordnung«, sagte Carrolson. »Sonst noch was?«
»Ich weiß nicht, o b’s überhaupt möglich ist, aber wenn wir schon Pi messen, dann möchte ich auch h quer 9 messen und die Gravitationskonstante … und was denen sonst noch einfällt an Eigenschaften des Universums. Eine Art Multimeter.«
»Glaubst du, dass die Konstanten hier anders sind?«
»Einige zumindest.«
»Das Wirkungsquantum h? Wir würden nicht einmal existieren.«
»Es könnte ein Unterschied im Verhältnis bestehen. Das würd ich halt gern wissen.«
Carrolson stand auf, nahm die leere Thermoskanne und die Bananenschalen und kehrte zum Zelt zurück. Minuten später fuhr sie zusammen mit Wu im Laster zum Tunnel zur sechsten Kammer.
Patricia blickte in den Korridor und runzelte die Stirn.
Sie hatte echte, wenn auch begrenzte Macht. Soeben hatte sie einer Nobelpreisträgerin Beine gemacht.
Die wichtigsten Momente in Patricias Leben hatten sich in ihrem Kopf abgespielt, wo sie sich einer Welt hingab, die den meisten Erdenbürgern schleierhaft wäre. Als sie nun beim Zwergwald saß und Mozarts Jupiter-Symphonie hörte und in den Korridor blickte, stellte sie zunächst nervös, dann ärgerlich fest, dass der Zustand sich nicht einstellen wollte.
Sie wusste, wo sie anzufangen hatte. Falls der Korridor nicht aus Materie bestand, dann gab es nur wenige
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