Aeon
unzählige Male unter der Stadt Thistledown hindurchgefahren. Allerdings war die dritte Kammer die bestbewachte der ersten fünf. Keiner der Züge hatte dort gehalten – bis jetzt.
Rupert Takahashi begleitete sie vom U-Bahnhof hinauf zu den ebenerdigen Gehsteigen.
Takahashi diente dem wissenschaftlichen Team in einer ungewöhnlichen Funktion. Sein Titel als Mathematiker wäre eine völlig unzureichende Beschreibung seines Tätigkeitsfeldes gewesen; scheinbar wechselte er von einem Interessengebiet ins nächste, wobei er tageweise bald mit der einen, bald mit der anderen Gruppe arbeitete. Er war mehr als ein Generalist: Er war ein Generalist mit einem speziellen Ziel, nämlich die mathematische und statistische Exaktheit innerhalb der verschiedenen Wissenschaftlergruppen zu überwachen. Das erklärte, wie es dazu kam, dass er mit Professor Rimskaya an der vorläufigen Korridor-Theorie arbeitete; sie hatten nämlich dieses Thema angerissen, als Takahashi Rimskayas Bevölkerungsstudien nachrechnete.
Die Stadt Thistledown, zwei Jahrhunderte jünger als Alexandria, war verblüffend. Sie war erbaut worden nach dem Abflug des Steins, sodass die erst nach langjähriger Erfahrung der Bewohner mit ihrer Umgebung gereiften Einsichten bei der Gestaltung zum Tragen kamen. Hier hatten sich die Architekten des Steins alle Freiheiten genommen. Die Kammer als riesiges Tal betrachtend, hatten sie von Kappe zu Kappe Trossen gespannt und in beschwingter Folge mit Gebäuden behängt. Die Krümmung des Talbodens nutzend, hatten sie zehn Kilometer lange, gewölbte Strukturen errichtet, Bänder aus Stahl und behandeltem Steinmaterial, die zu silber-weißen Mustern verschlungen waren und weiche Schatten auf die Umgebung darunter warfen. Manche dieser Strukturen erhoben sich bis zur Grenze der Atmosphäre; diese waren oben sogar dicker als unten.
Obwohl verlassen, wirkte die Stadt Thistledown lebendig. Der geringste Anschein von Menschen genügte, und sie würde zum Leben erwachen, dachte Patricia; ein paar Hundert Bürger, die von Haus zu Haus gingen, ungewöhnlich gekleidet in bunte, fließende Gewänder, die zu den beschwingten Bögen und Kurven und Wölbungen passten, in grellen Farben als Kontrast zum gedämpften Weiß und Beige und zum Metallic der Stadt.
Die Hauptbibliothek war praktisch unter einem ausladenden Anbau versteckt, der wiederum ein kopfstehendes, wenn auch kleineres Kegelgebilde war. Takahashi hatte gesagt, es sei nicht weit zu Fuß, also spazierten sie los über Plätze und Fußgängerbrücken und an Straßen entlang, auf denen es einst wohl gewimmelt hatte von Fahrzeugen, hauptsächlich computergesteuert und unbemannt. »Die Fahrzeuge sind verschwunden«, bemerkte Takahashi. »Wir wissen nur noch von Aufzeichnungen, wie sie einst ausgesehen haben. Sie sind vermutlich beim Auszug eingesetzt worden.«
Patricia versuchte sich die Millionen von Steinbewohnern vorzustellen – eine solche Zahl hätte allein die Stadt Thistledown mühelos beherbergen können –, wie sie in ihren Roboterautos durch den Korridor davonpilgerten.
Der Eingang zur Bibliothek bestand aus einer massiven Platte, die an schwarzen Marmor erinnerte. Als sie näher traten, erklang über Lautsprecher eine Stimme, die sie – zwecks Identifikation – zum Stehenbleiben aufforderte. Ganze zwei Minuten standen sie da, bis sie endlich passieren durften.
Eine breite Halbellipse öffnete sich in der schwarzen Platte. Dahinter wartete das obligatorische Sicherheitsteam in Grau und Schwarz, das sie nach einer weiteren Prozedur einließ. Das Innere der Bibliothek war hell erleuchtet; eine Notbeleuchtung war hier nicht erforderlich. »Sicherungen intakt in Thistledown«, bemerkte Takahashi. »Dabei wissen wir nicht mal, wie der Strom in die Lampen kommt und woher er überhaupt stammt.«
Die eigentliche Bibliothek war insgesamt kleiner als die Schwester – oder Vorgängerin – in Alexandria und verfügte über keinerlei sichtbare Medien. Das Erdgeschoss bestand aus einem Innenhof mit pastellblauem Teppichboden unter einem weiß schimmernden, folienartigen Himmel, der sich freitragend über hundert Meter spannte. Der Raum war mindestens mit tausend lindgrünen Polstersitzen bestuhlt. Vor jedem Platz stand ein schiefergraues Podest mit einem Chromkügelchen darauf.
Material und Stoffe in der Bibliothek zeigten keinerlei Spuren von Abnutzung oder Alter.
Takahashi führte sie zu einem Platz, der umringt war von Steuerungs- und Aufzeichnungsgeräten, die
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