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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Metern an der staunenden Juliane vorbei, die mir mit weit aufgerissenen Augen und wild fuchtelnden Armen hinterherblickte.
    Ja – die größere Schwester zu sein hat schon Vorteile. Sieht man von der Lästigkeit ab, für alles immer ganz allein verantwortlich gemacht zu werden, so ist man am Ende des Tages doch immer die Klügere und die Stärkere.
    Und die mit dem dickeren Kopf.
    Meine rasante Abfahrt wurde jäh gestoppt. Ich prallte, mit dem Hinterkopf voran, an etwas sehr Hartes.
    Ein Jaulen zerriss die Kakofonie aus Kinderrufen, alpiner Quetschkommodenmusik und dem monotonen Rauschen, wenn eine der Gondeln über unseren Köpfen in die Schienen der Talstation hineingedrückt wurde.
    In meinem Rücken brüllte ein Mädchen. Und das Brüllen kam mir mehr als bekannt vor.
    Kennen Sie den Trick mit den zwei Münzen? Man schnippt eine Münze an, die knallt an eine andere. Die Energie überträgt sich auf die liegende Münze, die nach vorn schießt. Die Münze, die geschnippt worden ist, hat ihre gesamte Energie an die andere Münze abgegeben und bleibt still liegen.
    So ähnlich war das bei meiner Schwester und mir. Nachdem sich Anne auf der Ziellinie, die genauso unsichtbar war wie die Startlinie einige Meter weiter oben, aus der liegenden Position aufgerichtet hatte und sitzen geblieben war, waren wir mit ordentlich Wumms und Karacho zusammengeprallt, und zwar mit unseren Köpfen.
    Anne schrie wie am Spieß. Meine Eltern ließen ihre Heißgetränke mit Schuss stehen und hasteten zu ihrer Jüngsten, die sich mit hochrotem Gesicht in den Schnee warf und das wilde Zappeln begann.
    Mir war ein wenig schummrig. Aber niemanden kümmerte das, deswegen fing ich – sicher ist sicher – lieber auch zu heulen an. Was aber niemand bemerkte. Denn alle, selbst die alte Opportunistin Juliane, kümmerten sich um Anne, die vor lauter Flennerei fast keine Luft mehr bekam.
    Das bereitete mir einige Kopfschmerzen. Aber davon nahm natürlich auch niemand Notiz.
    Ich war beleidigt. Es war ja wohl nicht meine Schuld, dass diese ständig Aufmerksamkeit heischende Nervensäge einfach im Schnee sitzen geblieben war! Um mich hatte sich zufällig NIEMAND gekümmert, dabei war mein Kopf viel voller und damit viel mehr wert als der von Anne!
    Als Annes Tränen irgendwann endlich versiegten und meine Mutter mit einem eilig herbeigeschafften riesigen Becher Eiscreme (nur für Anne, die ihn geschwisterlich mit Jule teilte) den ersten Schreck vertrieben hatte, rappelte sich meine jüngste Schwester auf und warf mir, die in einigen Metern Entfernung saß und sich immer noch den schmerzenden Schädel hielt, einen vernichtenden Blick zu. Meine Mutter taxierte mich ebenfalls mit den Augen und schüttelte leicht den Kopf. Und noch heute bin ich mir sicher, über das Wispern der Tannen und das Lachen einiger Kinder in der Ferne hinweg ein »Ts-ts-ts!« gehört zu haben.
    Nachdem mein Vater bei Anne einen kurzen Funktionscheck aller zum Skifahren notwendigen Organe und Körperteile durchgeführt hatte, verkündete er die Diagnose: »Nur eine Beule, das wird schon wieder.« Und sein Behandlungsvorschlag lautete: »Ab auf die Ski, solange der Sattel noch warm ist!«
    Es sollte eine der wenigen Fehldiagnosen bleiben, die er, soweit ich das überblicken kann (aber vielleicht ist es auch gut, dass ich nicht alles weiß), in seiner Karriere als praktizierender Arzt und (sic!) Sportmediziner stellen sollte. Es war keine Beule. Und es wurde auch nicht mehr, jedenfalls nicht mehr so schnell.
    Fakt ist: Wir stiegen alle wieder auf die Ski. Als ich aber am späten Nachmittag mit den anderen Kindern zurück ins Hotel gebracht wurde, war unser Hotelzimmer leer. Na ja, bis auf Jule, die auf dem Doppelbett meiner Eltern lag und gemütlich Zeichentrickfilme guckte.
    »Wo sind Mama und Papa?«, fragte ich.
    »Krankenhaus«, antwortete Jule einsilbig, ohne auch nur eine Sekunde den Blick von der Mattscheibe zu lösen.
    »Wieso, was ist passiert?«, fragte ich, und in meinen Eingeweiden fing es zu rumoren an. Ich hatte ein schlechtes Bauchgefühl, denn selbst wenn ich mir den ganzen Nachmittag die größte Mühe gegeben hatte, nicht an Anne zu denken, war es mir doch nicht gelungen, mir keine Sorgen um sie zu machen. War das wirklich nur eine Beule? Würde ich für mein – und das hätte ich niemals öffentlich zugegeben – rücksichtsloses Verhalten noch zur Rechenschaft gezogen werden? Ich schluckte schwer.
    »Anne ist im Krankenhaus. Kopferschütterung oder so«,

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