Aerztekind
murmelte Juliane. »Mama ist total sauer auf dich.«
Na toll. Da war er also, der Moment, in dem sich Schuldgefühle, Trotz, Scham und Wut über mich selbst zu einer Art Supergefühl zusammentaten und wie ein Hurrikan in meinem Inneren tobten. Tränen kullerten mir über die Wangen.
»Tut dir auch was weh?«, fragte Juliane rücksichtsvoll, doch bevor ich ihr antworten konnte, ging die Tür auf, und meine Eltern kamen mitsamt meiner jüngsten Schwester, die mein Vater liebevoll auf seinem Arm trug, ins Zimmer.
Ich starrte meine Mutter an.
Meine Mutter starrte zurück, dann blickte sie auf Anne, die mit geschlossenen Augen gerade von meinem Vater aufs Doppelbett gelegt wurde.
»Caro, darüber müssen wir noch reden«, sagte sie.
Und dann erzählte sie mir, was in der Zwischenzeit passiert war. Einige Stunden nachdem ich mit vorgeschobener Lippe und verräterisch glänzenden Augen an meiner strafend dreinblickenden Mutter vorbei zu meiner Skigruppe gezockelt war, fuhr meine Mutter mit ihrer Skigruppe in einem Viererlift in Richtung Gipfel. Neben ihr saßen zwei Damen, und die berichteten von einem kleinen Mädchen, das gerade wegen einer schweren Gehirnerschütterung mit dem Hubschrauber aus dem Skigebiet abgeholt und ins nächste Krankenhaus gebracht worden war. Meine Mutter, daran gewöhnt, von uns immer nur die halbe Wahrheit zu erfahren und sich den Rest unserer Gräueltaten zusammenreimen zu müssen, spitzte die Ohren. Auf dem Gipfel angekommen, fackelte sie nicht lange und warf sich die lange gemiedene schwarze Buckelpiste ins Tal hinunter. Das war ganz sicher ihr kleines Mädchen, das da mit dem Helikopter abtransportiert worden war, und der Teufel wollte sie holen, wenn sie nicht innerhalb der nächsten halben Stunde bei ihr sein konnte! In ihrer Angst über sich hinauswachsend, war sie bald schon im Tal, dann im Krankenhaus, um sich rechtzeitig zum Vier-Uhr-Tee von meiner kleinen Schwester die halbe Portion Pommes vom Mittagessen auf den einteiligen Skianzug kotzen zu lassen.
Ich wurde an diesem Tag für mein Verhalten nicht mehr zur Rechenschaft gezogen – sieht man von der Verpflichtung ab, weiterhin am Skikurs teilnehmen zu müssen und nicht das Krankenlager mit Anne teilen zu dürfen. Selbst die schien – Gehirnerschütterung sei Dank! – vergessen zu haben, wer der Verursacher ihres Leidens gewesen war.
In den fogenden Tagen sahen sich meine Mutter und Anne im Hotelzimmer Disneyfilme an. Ich wiederum musste mit meiner bescheuerten Skigruppe die Abhänge hinunterjagen und verbrachte täglich Minimum zehn Stunden an der frischen Luft – das waren genau zehn Stunden zu viel für einen so ausgesprochenen Stubenhocker wie mich.
An einem Abend, etwa eine halbe Woche nach dem Kopf-an-Kopf-Rennen, das sich Anne und ich geliefert hatten, entschieden sich meine Eltern für die einladende Saunalandschaft unseres Feriendomizils und gegen ein gemeinsames Abendessen mit ihren drei Gören. Sie baten uns, doch einfach schon mal vorzugehen, um im Restaurant des Hotels etwas zu essen, während sie noch für eine kurze Runde »in die Schwitzhütte« wollten, wie sich mein Vater liebevoll ausdrückte. Er und meine Mutter lieben Saunen.
Murrend, weil mit der Aufsicht meiner Schwestern betraut, machte ich mich mit Juliane und Anne im Schlepptau auf den Weg ins Restaurant, bestellte dreimal Pommes mit extra Ketchup und wartete darauf, dass meinen Schwestern, wie eigentlich immer, die Augen zufielen.
Taten sie aber nicht. Ein leises Gemurmel und Gekicher, das um uns herum die Gäste ergriff, hielt sie in Bann. Und dann reckten und streckten die Restaurantgäste um uns herum auch noch die Köpfe, um durch die große Fensterscheibe einen Blick hinaus auf den nächtlich erleuchteten Skiort zu werfen, der sich malerisch an einen Berg schmiegte. Ein Kellner zückte den Fotoapparat, Finger zeigten nach draußen, ein älterer Herr verschluckte sich an einem Löffel Flädchensuppe. Kinder standen von ihren Stühlen auf und rannten zum Fenster, um ihre Nasen gegen das kalte Glas zu drücken. Hier und dort vernahm ich das Kratzen der Stuhlbeine auf dem Parkettfußboden, wenn sich ein Gast schaulustig erhob, um zu sehen, was sich vor dem Restaurant im unendlichen Weiß abspielte.
Da draußen im flutlichterleuchteten Schnee tollten zwei Menschen wie junge Hunde herum. Zwei krebsrote und splitterfasernackte Menschen. Die Erkenntnis, wer da im Adamskostüm Tierspiele imitierte, traf mich wie ein Schlag. Ich wünschte mir, zu
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