Aerztekind
sterben, betete innerlich zu Gott, zur Kassenärztlichen Vereinigung und zum Universum, man möge mir auf der Stelle eine mobile Erdspalte zur Verfügung stellen, in der ich in diesem Augenblick verschwinden konnte! Und ich wusste: Meine Mutter und mein Vater waren Kuckuckseltern. Das konnte nicht mein eigen Fleisch und Blut sein, niemals war es möglich, dass wir uns denselben Genpool teilten, dass ich den Leisten meines Vaters und dem Becken meiner Mutter entsprungen war, denn SO WAS machten Eltern nicht. Weder leibliche noch adoptierte noch geliehene.
»Oh Scheiße, das sind …«, begann Juliane, doch ich unterbrach sie harsch, indem ich ihr einen saftigen Tritt unter dem Tisch versetzte.
»Kein Wort!«, zischte ich.
Als wir uns nach einer gefühlten tausendjährigen Schockstarre endlich erhoben hatten, um möglichst schnell und möglichst unauffällig aus dem Restaurant zu verschwinden, tauchten Mama und Papa plötzlich an der Bar des Restaurants auf. In Bademänteln.
Sie winkten uns zu.
»Hallo, Mädels«, trompetete mein Vater auch schon, und alle Gäste des Restaurants wendeten gleichzeitig ihre Köpfe in seine Richtung.
Dann in unsere.
»Wir ziehen uns nur noch schnell an und kommen dann!«, verkündete der Herr Doktor außer Dienst, drehte sich auf dem badebelatschten Absatz um und schob meine Mutter aus dem Restaurant, nicht ohne ihr noch einmal einen liebevollen Klaps auf den Po zu geben. Meine Mutter antwortete mit einem koketten Kichern.
Bis zum Ende des Urlaubs täuschte ich eine schwere Magenverstimmung vor und blieb mit Anne auf dem Zimmer. Immerhin konnte ich dort Disneyfilme gucken, in denen sich nie, ich wiederhole: niemals irgendjemand auszog.
4. Voll drauf
Es begab sich zu der Zeit, in der die Pole noch aus Eis waren, die Sommer heiß und die Nächte lang, in der das Öl aus den Quellen sprudelte und Politiker im Fernsehen verkündeten, dass die Renten sicher seien. In dieser Zeit legten die Pharmaunternehmen den verschreibenden Ärzten Opfergaben danieder, um sie milde zu stimmen und ihre überquellenden Budgets bis auf den letzten Tropfen auszupressen. Das war lange, lange bevor sich eine gewisse Frau Ulla Schmidt zum Staatsfeind Nr. 1 aller niedergelassenen Kassenärzte und zur unpopulärsten Person im öffentlichen Gesundheitssystem machte.
Damals, als die Pharmaindustrie noch Geld hatte und dank des Bayer-Konzerns nicht der Rhein, sondern ein Strom aus Milch und Honig durch die deutschen Lande floss, als Pharmareferent noch ein eingetragener Beruf war und es noch nicht für alle erdenklichen Beschwerden auch was von ratiopharm gab, da warfen die Pharmaunternehmen mit kleinen Vergünstigungen und großen Einladungen nur so um sich.
Dank der Firma Roche, die ich an dieser Stelle und mit Freuden namentlich nenne, bin ich als Zehnjährige in den Genuss gekommen, das Lloyd-Webber-Musical Cats in Hamburg zu besuchen. Die Firma zahlte alles, die Anreise per Zug, das komplette Wochenende mit der fünfköpfigen Familie im Hotel, die Eintrittstickets und sogar das Kinderschminken am Nachmittag danach. Bis heute frage ich mich, warum meine Mutter nicht noch viel, viel mehr Fotos von mir und meinen zwei Schwestern im Zugabteil der ersten Klasse gemacht hat, wie wir unsere ölig-glänzenden bunt bemalten Katzengesichter an den wertvollen Polyesterpolstern unseres Abteils reiben.
Heute würde ein Arzt wahrscheinlich noch nicht einmal eine Einkaufstasche aus Polyester bekommen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es der Pharmaindustrie nicht richtig gut gehen kann, sind die vielen Notizblöcke und Kugelschreiber, die mein Vater in den letzten Jahren geschenkt bekommen hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen wir einen von STADA finanzierten Kurzurlaub in den bayerischen Alpen machten, in denen Vertreter in schlecht sitzenden Anzügen vergoldete Büroartikel aus dem speckigen Aktenkoffer zauberten.
In der Praxis meines Vaters hängt eine inzwischen leicht vergilbte Geschenkurkunde. Darauf steht: »Die besten Ärzte der Welt sind Dr. Diät, Dr. Ruhe, Dr. Fröhlich und Dr. Wittmann.«
Wo, außer in der Politik, ist ein dermaßen systematisches In-den-Arsch-Kriechen dieser Tage eigentlich noch erlaubt? Heute ist das Wulffen gesellschaftlich verpönt, heute kratzen unsere Löffel in den leeren Kaffeetassen!
Von denen haben wir allerdings sehr viele. Ich glaube, meine Mutter hat noch nie selbst Kaffeetassen gekauft. In unserem Kaffeetassenschrank stapelt sich seit eh und je ein buntes Sammelsurium
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