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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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blinde, lahme Menschen zu uns, und wenn sie gingen, dann konnten sie wieder frei atmen, sehen und laufen. Einmal, als ich wie so oft allein vom Kindergarten nach Hause gelaufen war, weil meine Mutter es nicht geschafft oder vielmehr vergessen hatte, mich von dort abzuholen (vermutlich, weil sie gerade ein Drei-Gänge-Butterkeksmenü zubereitete), sah ich einen einsamen Rollstuhl vor der Praxis meines Vaters stehen. Ich stutzte. In Rollstühlen, das wusste ich bereits in meinem zarten Alter, mussten Leute sitzen, die nicht mehr gehen konnten. Und wenn vor der Praxis meines Vaters ein Rollstuhl stand, aber niemand darin saß, dann musste der Besitzer aufgestanden und fortgegangen sein. Vermutlich, so dämmerte mir, geheilt.
    Ich war sprachlos. Und sehr stolz. Denn an diesem Tag stellte ich fest, dass mein Vater und dieser bewundernswerte Mann, von dem in der Kinderbibel immer erzählt wurde, sehr viele Gemeinsamkeiten hatten. Und insgeheim wusste ich schon damals: Mein Papa war Jesus. Wenn nicht sogar der Oberboss des ganzen Vereins, den wir in unregelmäßigen Abständen besuchten, damit meine Eltern eine pappige runde Plätzchenunterlage ohne Plätzchen darauf essen durften. Zumindest verfügte mein Vater aber über eine ganz besondere Verbindung nach oben, was auch das geheimnisvoll knisternde, unverständliche Nachrichten in unsere Wohnung schickende Gerät auf der Anrichte im Flur erklärte. Jeden Mittwochabend und Sonntagvormittag, selbst in den Ferien, selbst an Feiertagen und sogar an Weihnachten, drangen urplötzlich quietschende Piepstöne, die mich entfernt an das Tuten des Telefax in der Praxis erinnerten (denn den Sinn dieses Geräts hatte ich natürlich längst verstanden: Es diente meinem Vater, um Laborberichte und Untersuchungsergebnisse aus dem Krankenhaus für seine wichtige Arbeit zu liefern), aus dem kleinen schwarzen Plastikkasten, und alle Lichter und Dioden, die auf der Vorderseite angebracht waren, fingen an zu leuchten und rätselhafte Morsezeichen in die stille Wohnung zu senden.
    Meine Schwestern und ich saßen jeden Mittwoch und jeden Sonntag in seltener, weil stummer Eintracht andächtig vor der Anrichte und lauschten den mysteriösen Wortfetzen, die dem Gepiepse und Gedröhne immerzu folgten.
    »Vrrh-hko. Krn-hh-sssss Vi---n---piep.«
    Ich wusste nicht, was uns die Stimme aus dem Weltraum mitzuteilen versuchte, und auch meine Schwestern, die sich sonst eigentlich immer mit mir, zumindest aber miteinander in den Haaren hatten, verstummten, hielten sich nachdenklich die Zeigefinger an die Nasen und schüttelten bedauernd den Kopf.
    »Ich weißßß nicht, waßß der ßagt«, lispelte Anne, der gerade beide Schneidezähne ausgefallen waren, feucht.
    »Das hat bestimmt mit dem Gerät zu tun, in das Papa immer reinspricht«, kam mir die zündende Idee.
    Ein paar Tage zuvor hatte ich von meinem Kindermaltisch in Behandlungszimmer 1 aus beobachtet, dass mein Vater ein kleines schwarzes Plastikding aus einer Schublade seines Schreibtisches gezogen und mit schnarrender Stimme angefangen hatte, seltsame und mir vollkommen unbekannte Wörter in das Gerät zu sprechen. Immer wieder hatte er dabei Pausen eingelegt, auf ein kleines Knöpfchen an dem Gerät gedrückt, dem surrenden Geräusch gelauscht, das erklang, wenn die eingelegte Minikassette rückwärtsspulte, und dann noch einmal das Knöpfchen gedrückt. Fasziniert hatte ich festgestellt, dass die Worte meines Vaters jetzt nicht mehr aus seinem Mund, sondern aus dem kleinen Lautsprecher des Plastikdings kamen, und ich hatte mir gedacht, dass mein Vater in seiner Funktion als rechtmäßiger Stellvertreter auf Erden wohl wirklich alles konnte. Selbst unscheinbaren schwarzen Plastikgeräten das Sprechen beibringen.
    Als ich mich irgendwann getraut hatte, meinen Vater zu fragen, was er da mache, hatte er mit einem geduldigen Blick über seine große Brille geantwortet: »Ich diktiere.«
    Und in diesem Moment, als ich mit meinen Schwestern im Flur vor der Anrichte kauerte und den Botschaften dieses schwarzen Gegenstücks lauschte, wurde mir klar, dass mein Vater Mitteilungen in seiner Praxis aufnahm und diese mittwochnachmittags und sonntagvormittags ablaufen ließ, um mit uns zu kommunizieren. Wir waren sehr brav und gehorsam in jenen Tagen.
    Jahre später, als ich erfuhr, dass das knarzende und piepende Gerät lediglich das Funkgerät der Einsatzzentrale und die geheimnisvolle Tätigkeit meines Vaters nur das Diktieren seiner Berichte war, die seine

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