Aeternum
Immer mehr Rauchgranaten flogen in die Menge. Vielleicht gelang es der Polizei ja durchzubrechen? Aber was brachte ihr das? Durchlassen würden die Männer in Blau sie auch nicht.
Plötzlich knackte ein Megaphon inmitten des Chaos.
»Haltet stand, Brüder und Schwestern!« Die elektronisch verstärkte Stimme hallte zwischen den Häusern wider. »Denkt daran, der Herr ist auf unserer Seite. Er hat seine Engel gesandt und uns einen Auftrag erteilt. Wir werden nicht weichen!«
Tatsächlich blieben die fliehenden Demonstranten stehen. Amanda beobachtete ihre verschwommenen Gestalten im Rauch. Sie husteten, sahen wahrscheinlich kaum etwas, aber sie sammelten sich und traten den vorrückenden Polizisten entgegen. So viel Entschlossenheit. Wenn diese Leute doch nur wüssten, wie es um ihren Gott tatsächlich stand. Aber sie sahen nicht so aus, als wären sie bereit zuzuhören, wenn man versuchte, es ihnen zu erklären.
»Lass uns einen anderen Weg suchen.« Juls Stimme klang angespannt, und Amanda nickte. Sie zog sich von der Hausecke zurück und sah sich um.
Wo waren sie? Eigentlich durfte es nicht mehr weit sein. Vielleicht ein Block noch oder zwei. Zeit für einen neuen Plan. Amanda packte Jul am Arm und zog ihn auf das nächste Haus zu. »Komm. Wir gehen durch die Hinterhöfe.«
So gut wie jedes Haus in Berlin besaß einen Hinterhof, aber weder Demonstranten noch Polizisten schienen sich dafür zu interessieren. Sie dachten nicht wie ein Einbrecher. Dachten nicht daran, dass man sich nur durch einen schmalen Durchgang schieben musste, über eine gepflasterte Fläche eilen, zwischen Bäumen und abgestellten Fahrrädern hindurch. Dass es nicht lang dauerte, ein Fenster aufzubrechen. Amanda zog Jul durch eine leere Wohnung und einen Hausflur entlang. Zur Vordertür hinaus und über eine Querstraße, während links und rechts von ihnen die Schlacht tobte. Der nächste Durchgang führte sie in einen richtigen Garten. Beinahe friedlich, trotz der Schreie, die von der Straße zu ihnen hereindrangen.
Diesmal knackte Amanda das Schloss einer Hintertür. Wieder ein wie ausgestorben daliegender Hausflur. Bloß immer in gerade Linie weiter, ansonsten würden sie die Orientierung verlieren. Also durch die nächste Wohnung, die Tür hielt sie kaum auf. Im Vorbeilaufen spähte Amanda in eines der Zimmer. Offene, leere Schränke, davor eine vergessene Socke. Irgendwer hatte sehr eilig gepackt.
All diese verlassenen Behausungen. Amanda schauderte. Wenn man die Häuser von außen betrachtete, konnte man sich immer einreden, dass sich dort noch Leute verstecken. Erst wenn man hindurchging, ließ sich nicht mehr leugnen, dass alle Bewohner geflohen waren, dass niemand so dicht am Alexanderplatz bleiben wollte. Sie waren geflohen, obwohl es keinen Ort mehr gab, an dem sie sicher sein würden.
Weitere Höfe, Hausflure und Wohnungen folgten. Amanda versuchte, sie auszublenden, konzentrierte sich ganz auf ihr Ziel. Der Alexanderplatz. Die Gestalten aus Licht und Schatten am Grund des Kraters.
Schließlich traten sie aus einem letzten Hauseingang. Der Alexanderplatz lag vor ihnen.
Oder zumindest das, was von ihm übrig war.
Amanda hielt inne, auch beim zweiten Mal überwältigt von all der Zerstörung. Sie schien nicht zu der Welt zu gehören, die sie kannte, nicht einmal zu dem, was sie in Balthasars Heim kennengelernt hatte. Amanda stand an der Grenze zwischen dem Berlin der Menschen und einer apokalyptischen Landschaft, die jeden falschen Schritt mit dem Tod bestrafte.
Und sie wuchs. Der Krater war breiter geworden. Die rechte Spur der Alexanderstraße fehlte nun ebenfalls, von den Absperrungen und den Blumen rings um den Platz war nichts mehr zu sehen. Die Fundamente der angrenzenden Gebäude bröckelten.
»Pass auf.« Eine Hand packte Amanda am Arm, zog sie tiefer in den Schatten des Hauseingangs, aus dem sie gerade getreten waren. An ihrer Schulter vorbei deutete Jul nach oben.
Sie folgte seinem Fingerzeig mit dem Blick und schnappte nach Luft. Instinktiv wich sie noch ein Stück zurück. Über dem tiefen Loch kreisten die Engel. Unmengen davon, wie Geier über dem Kadaver eines toten Tiers.
Hatten sie sie gesehen? Amanda hielt den Atem an, machte sich darauf gefasst, dass gleich ein Engel herabstoßen, blaues Feuer aufflackern würde.
Doch nichts geschah. Nach einer Weile ließ sie den Atem entweichen.
Aber würde es ihnen unter diesen Umständen gelingen, unbemerkt in den Krater zu gelangen? Juls Engelfreund hatte
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