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Aeternum

Aeternum

Titel: Aeternum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Bottlinger
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Amanda blinzelte, ohne dass sich etwas änderte. Das Rattenwesen hing in der Luft wie in einem dieser alten Zeichentrickfilme, wenn die Figuren nicht merken, dass sie gerade über den Rand eines Abgrunds getreten sind. Der Moment dehnte sich, und sie hielt unwillkürlich den Atem an. Der Dämon strampelte mit den kurzen Beinen, driftete ein Stück weiter über den Krater hinaus. Noch immer zog ihn die Schwerkraft nicht hinab.
    Dann schwang er seinen sichelbewehrten Schwanz unter sich, schien irgendwo jenseits der Kante mit der scharfen Knochenklinge einen Halt zu finden. Ganz langsam sank er tiefer, verschwand außer Sicht.
    Amanda ließ den angehaltenen Atem entweichen.
    »Was geht hier vor?« Muriels Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als er aussprach, was auch Amanda durch den Kopf ging. Sie starrte auf die Stelle, an der der vergessene Gott in der Luft gehangen hatte. Ein Fluch lag ihr auf der Zunge, aber sie brachte ihn nicht über die Lippen.
    Schließlich ergriff Jul das Wort. »Erst die Zeit, nun die Schwerkraft. Wir sollten lieber nicht abwarten, was als Nächstes nicht mehr funktioniert.« Er räusperte sich. »Ich sagte doch, ich schulde dir eine Erklärung, Muriel. Aber nicht jetzt.«
    Diese Worte rissen den Engel aus seinem Staunen. Hastig sah er sich um, legte sogar kurz den Kopf in den Nacken, um zwischen den Ästen in den Himmel zu spähen. »Ich habe das Gefühl, was auch immer ihr tut, ist wichtiger, als ich bisher dachte. Bist du sicher, dass ich euch nicht begleiten soll, Iacoajul?«
    »Ja.« Nur dieses Wort, knapp und hart.
    »Dann bleibt mir nichts, als euch zu wünschen, dass der Herr mit euch ist. Lauft auf mein Zeichen.«
    Kleidung raschelte, als Juls Freund sich bewegte, doch Amanda sah nicht mehr in seine Richtung. Sie spannte sich an, fixierte die Stelle, an der das Rattenwesen verschwunden war. Es hatte ihnen einen sicheren Weg hinunter in den Krater gezeigt. Die Naturgesetze gaben an diesem Ort den Geist auf, eines nach dem anderen, wie die Zahnräder eines Uhrwerks, in das Sand geraten war. Der Gedanke war zu erschreckend, um ihn ganz fassen zu können. Nur ein Gutes hatte er – sie würden nicht klettern müssen.
    »Jetzt!« Blätter raschelten, als würde jemand an einem Ast schütteln. Versuchte Muriel, die Geräusche, die sie machten, zu überdecken?
    Jul war schneller als Amanda, sprintete los. Am Kraterrand bremste er ab, ging in die Hocke und tastete an der Kante nach Halt. Im nächsten Augenblick schwang er sich darüber, schien kurz wie im Sprung erstarrt in der Luft zu hängen. Dann griff er nach unten, zog sich Stück für Stück hinab und verschwand außer Sicht.
    Amanda wusste, sie sollte es genauso machen. Aber ihr Körper schien ein Eigenleben zu entwickeln, hielt am gezackten Rand inne, zögerte. Sie war drauf und dran, ihr Leben einer Fehlfunktion in den Gesetzen der Physik anzuvertrauen. Was, wenn die Schwerkraft auf halbem Weg auf einmal wieder funktionierte? Sie schaute in das Loch hinab, dessen Boden schwindelerregend tief unter ihr lag. Es sah aus, als würde sie in einen See blicken, der den Himmel spiegelte. Unzählige Lichtpunkte erstrahlten am Boden des Kraters, als wären die Sterne auf die Erde gefallen. Was lag dort unten noch im Argen?
    »Amanda!«
    Juls geflüsterter Ruf riss sie aus ihren Überlegungen. Sie ging an der unregelmäßigen Bruchkante in die Hocke, versuchte, das aufkommende Schwindelgefühl beiseitezudrängen. Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Amanda schloss die Augen und schwang sich über den Rand.
    Ihr Magen machte einen Satz. Es war haargenau dasselbe Gefühl, das einen befiel, wenn man in einem Vergnügungspark einen Free-Fall-Tower hinunterrauschte. Für einen Augenblick konnte sie nichts weiter tun, als sich an dem geborstenen Asphalt des Kraterrandes festzuklammern. Erst nach einer Weile sickerte die Erkenntnis in ihren Verstand, dass sie tatsächlich schwebte, dass ihr nichts geschehen konnte. Sie hatte Mühe, ein Lachen zurückzuhalten.
    Langsam hangelte sie sich an der Steilwand des Kraters nach unten, fand Halt an Betonbrocken, hervorstehenden Rohren und Steinen. Sie kam sich vor wie ein Astronaut, der sich vorsichtig an der Außenwand einer Raumstation entlangbewegte. Der Gedanke ließ sie schwindeln.
    Je tiefer sie kam, desto heller wurde es. Ein seltsames Zwielicht erleuchtete die Szenerie. Doch Amanda beging nicht den Fehler, über ihre Schulter nach unten zu sehen, um nach der Lichtquelle Ausschau zu halten.

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