Aeternum
Der Anblick des Bodens weit unter ihr hätte ihrem Magen sicherlich nicht gutgetan.
Irgendwann spürte sie, wie ihre Füße gegen harten Widerstand stießen. Sie sah nach unten, auch wenn es sich nicht wie unten anfühlte. Im nächsten Moment schnappte sie nach Luft. Der Boden unter ihr wellte sich wie die Oberfläche eines Teichs, in den jemand einen Stein geworfen hatte. Ihr erster Reflex war, sich wieder nach oben abzustoßen. Dann erst dämmerte ihr, dass der Welleneffekt in diesem Fall genau das bewirkte, was ihr den Abstieg so leicht gemacht hatte. An der Stelle, an der sie hing, geschahen keine seltsamen Dinge mit der Zeit, sondern nur mit der Schwerkraft. Sie würde nicht irgendeines schrecklichen Todes sterben wie der Mann, den sie am Tag zuvor in dem U-Bahn-Tunnel gefunden hatten. Amanda atmete auf.
Eine Hand packte sie am Arm und zog sie von der Wand fort. Sie schwebte über die Wellen hinweg und über die Grenze hinaus, an der sie verliefen.
Mit einem Schlag zog die Schwerkraft sie nach unten, als müsste sie wettmachen, dass sich einige Bereiche auf der Erde ihrem Zugriff entzogen. Amanda fiel, strauchelte auf dem unebenen Boden des Kraters. Juls Hand schloss sich fester um ihren Arm, und er ließ erst los, als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dann deutete er in den Krater hinaus.
»Ich sagte doch, Muriel wird schon wissen, was er tut.«
Tatsächlich herrschte keine absolute Dunkelheit am Grund des Kraters. Überall auf dem Boden schimmerten helle Flecken, als würde die Sonne dort auf die Steine scheinen. Sie wirkten wie Pfützen, Überbleibsel der Ebbe, mit der das Tageslicht sich zurückgezogen hatte. Ihr Licht strahlte nicht weit, wenn man sich von ihnen fernhielt, konnte man sich immer noch vor den Engeln in den Schatten verbergen. Aber es genügte, um nicht vollständig blind voranzustolpern.
Unter jedem dieser Flecken rollten sanfte Wellen über den Boden, ein Zeichen dafür, dass es dort tatsächlich noch Tag war, weil die Zeit verrücktspielte.
»Ich glaube, wenn wir das hier überleben, müssen wir davon ausgehen, dass irgendein Gott auf unserer Seite ist.«
»Ein Dämon reicht doch schon«, erwiderte Jul düster.
Unwillkürlich hielt Amanda nach huschenden Bewegungen und rattenartigen Gestalten Ausschau, sah jedoch nichts als Schutt und die seltsamen Flecken Tageslicht, die darüber verstreut waren. Sie hob die Schultern. »Im Moment ist mir alles recht. Meinetwegen könnte es auch Cthulhu sein, solange wir nur nicht kurz vor dem Ziel auf irgendeine eklige Art und Weise verrecken.«
»Das ist nicht die Art von Glaubensgrundlage, die ein Gott sich wünscht.« Täuschte sie sich, oder wurde seine ernste Miene ein wenig weicher? Immerhin schien er endlich wieder mehr mit ihr reden zu wollen als nur das Nötigste, und Amanda ging allzu gern darauf ein. Alles war besser, als in diesem Moment mit ihren Gedanken allein zu sein.
»Ich dachte, das ist, wie es früher funktioniert hat. Gab es da nicht diesen Kaiser, der nur deshalb aufgehört hat, Christen den Löwen zum Fraß vorzuwerfen, weil er unter dem Zeichen des Kreuzes irgendeine Schlacht gewonnen hat? Klingt für mich nach einer ähnlichen Überlegung.«
»Du meinst Kaiser Konstantin. Seine Mutter war Christin. Ich glaube, das hatte mehr mit seiner Entscheidung zu tun. Und selbst wenn die Geschichte stimmt, hast du noch immer ein Problem.« In Juls Augen trat ein amüsiertes Funkeln, und Amanda ertappte sich dabei, wie sie sich über den Anblick freute. »Du müsstest schon ein ganzes Weltreich befehligen, bevor ein Gott in Erwägung zieht, dir einen solchen Handel anzubieten.«
»Ich wusste es, Götter sind Snobs.« Sie beobachtete Jul aus dem Augenwinkel, sah ein schwaches Grinsen an seinen Mundwinkeln zupfen. Doch der Moment verging, seine Miene wurde wieder ernst. Entschlossen setzte er sich in Bewegung. »Lass uns dies hier zu Ende bringen.«
37
E s gab ein Spiel, das Kinder spielten, seit gepflasterte Wege existierten. Die Regeln schienen sich immer wieder zu ändern, Jul hatte viele Variationen davon gesehen. Doch ihr Kern war, dass man bestimmte Steine des Weges nicht berühren durfte, während man ihn entlangging. Oder die Ritzen zwischen den Steinen.
Er und Amanda spielten eine tödliche Version dieses Spiels, während sie tiefer in den Krater vordrangen.
Wenn der Boden vor Jul Wellen schlug, konnte er nicht sagen, ob an dieser Stelle die Zeit verrücktspielte, die Schwerkraft oder auch beides. Also machte
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