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Aeternum

Aeternum

Titel: Aeternum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Bottlinger
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versiegte. Himmel und Hölle lösten sich auf, alles, was sie ausgemacht hatte, war in dem Loch auf der Brust des Herrn verschwunden, ohne etwas zu bewirken. Die Gesichter der anderen Seraphim zogen an Jul vorüber, stumm und ernst, und er wusste, dass die Entscheidung, die das Schicksal der Welt besiegelt hatte, ohne ein Wort gefallen war. Wieder standen sie um den Herrn, wieder zogen sie Kraft aus einer Quelle, die den Eindruck erweckte, niemals versiegen zu können. Diesmal war es die Erde, das Universum. Aus Hoffnung war längst Verbissenheit geworden. Doch nicht ein einziges Mal trübten Zweifel den Entschluss.
    Schmerz durchzuckte Juls Rücken, riss ihn in die Wirklichkeit zurück und gleich weiter in die Vergangenheit, diesmal in seine eigenen Erinnerungen. Für einen schrecklichen Moment glaubte er wieder, Michael über sich stehen zu sehen, und der Geruch angesengten Fleisches stieg ihm in die Nase.
    Dann hörte er Federn rascheln. Der Schmerz verblasste, und Jul fand sich endlich in der Höhle unter dem Alexanderplatz wieder. Das steinerne Messer hielt er immer noch in der Hand, sein Schwert in der anderen. Aber irgendetwas hatte sich verändert. Er lachte auf, als er verstand, was es war.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit streckte Jul seine Schwingen.
    Wieder rannen ihm Tränen über die Wangen, doch diesmal waren sie der Erleichterung geschuldet. Nun erst, da er dicht über dem Höhlenboden schwebte und die ersten, unbeholfenen Schläge mit seinen drei Flügelpaaren tat, wurde ihm bewusst, wie schwer die Tatsache, an den Boden gebunden zu sein, auf seinen Schultern gelastet hatte. Er hatte beinahe vergessen, wie es war, sich frei zu fühlen.
    Dann fiel sein Blick auf Baal, und die Freude über seine neuen Schwingen versickerte wie Wasser im Wüstensand. Der Dämon stand neben Karins Leichnam, blickte mit ernster und nachdenklicher Miene auf sie hinab. Jul presste die Lippen aufeinander. Ja, er hatte seine Flügel wieder, aber zu welchem Preis? Ohne zu zögern, hätte er die neuen Schwingen wieder abgegeben, wenn das nur Karin ins Leben zurückgeholt hätte.
    Jul drehte sich in der Luft, hielt auf die beiden zu. Er mochte Karin nicht mehr helfen können, aber der Dämon hatte ihm eine Frage zu beantworten.
    Ein Windstoß fuhr Baal ins Haar, als Jul ihm gegenüber landete. Über den reglosen Körper hinweg sahen sie einander an. Der Blick des Dämons wanderte zu dem steinernen Messer in Juls Hand, dann zu den drei schimmernden Flügelpaaren, die sich hinter seinem Rücken erhoben. Ein bitteres Lächeln spielte über seine Lippen.
    »Wieso hast du mir die Waffe zugeworfen?«
    »Wieso hast du mir das Leben gerettet, anstatt sie gleich Amanda zu bringen?«
    Beide senkten den Blick. Karins Züge wirkten seltsam friedlich, nur ihre Brille war verrutscht, hing schief auf ihrer Nase.
    Baal ging neben ihr in die Knie, rückte das Gestell zurecht. Dann beugte er sich vor. Seine Lippen berührten Karins Stirn, und Jul versteifte sich, ließ ihn aber gewähren.
    »Ich nehme dein Opfer an.«
    Der Dämon richtete sich wieder auf und musterte Jul schweigend. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, hintergründig und wie immer wenig freundlich. Es zerschlug die Illusion des vergangenen Augenblicks. Für einen Moment hatte Jul fast glauben können, Karin habe etwas bewirkt. Doch er hätte wissen müssen, dass eine einzige Geste des Vertrauens, so groß sie auch gewesen sein mochte, die Gewohnheiten der Jahrhunderte nicht einfach fortspülen konnte.
    Was mochte Baal denken? Freute es ihn, dass er Karin letztendlich für sich gewonnen hatte, wenn auch wahrscheinlich auf andere Art als von ihm geplant? Überlegte er bereits, wie er an Jul herankam, nun, da er den beiden Frauen, die ihm nahestanden, alles abgepresst hatte, was sie zu geben in der Lage gewesen waren?
    Juls Finger schlossen sich fester um den Griff seines Schwertes. Doch Karins Worte klangen in ihm nach, deshalb schüttelte er nur den Kopf, wandte sich von dem Dämon ab. Er ließ den Blick durch die Höhle schweifen. Eine Gruppe Seraphim hielt auf das Loch in der Felswand zu, das den Eingang zur Höhle darstellte. Hatten sie Amanda entdeckt? Hatte sie nicht mehr die Kraft, sich die Engel vom Leib zu halten?
    Als hätten sie seinen Blick gespürt, lösten sich in diesem Moment zwei der sechsflügeligen Engel aus dem Schwarm, steuerten auf ihn zu. Jul atmete tief durch. Er hatte seinesgleichen getötet, und wollte er überleben, würde er es wieder tun müssen.

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